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Ich war lange nicht mehr hier. Seit dem Tod von Onkel George habe ich dieses Grundstück nicht mehr betreten. Bis heute.
Obwohl der Garten mittlerweile verwuchert ist und die Bäume mir größer erscheinen, finden meine Beine den Weg wie von selbst. Brombeeren zerkratzen die nackte Haut und klammern sich an den Saum meines Kleides. Unter einem der Sträucher lugen morsche Bretter hervor. Vorsichtig schiebe ich ein paar Zweige zur Seite. Es kommt eine Bank zum Vorschein. Die Erinnerungen sind schwach, doch ich spüre Georges Anwesenheit auf der Bank. Damals war ich vielleicht vier. Ich gehe weiter, kämpfe mich durchs Dickicht. Die Sonne brennt, als wolle sie mich auslachen.
Endlich erreiche ich die Tür. Falsch.
Endlich erreiche ich den Ort, an dem möglicherweise irgendwann mal eine Tür gewesen ist. Fast ehrfürchtig trete ich über die Schwelle.
Es fühlt sich an, als sei ich mit einer Zeitmaschine gereist. Nichts, wirklich nichts hat sich verändert hier drinnen.
Die Fensterscherben sehen aus wie architektonische Meisterwerke.
Die Wände, die mit dem feinsten Rot tapeziert sind, werden von weißen Flecken geziert.
Die Stühle mit den abgewetzten Polstern stehen mitten im Raum an einem viel zu kleinen Tisch.
Die Steinmuster an den Wänden im Nebenraum sehen künstlich aus und passend kein bisschen zum Rest.
So verlassen. So unberührt. So vertraut.
Als hätte das Haus jahrelang auf mich gewartet, weil es nicht mehr auf George warten konnte. Weil dieses Haus wusste, dass er nie wieder mit mir hierherkommen würde.
Ich versuche, mich an unseren ersten Tag hier zu erinnern. Er entgleitet mir immer wieder. Es ist unmöglich, all die Gedanken auseinanderzuhalten und zu sortieren. Mir fällt der Nachmittag ein, an dem ich ihm dabei geholfen habe, meine Tante für ein romantisches Picknick hierher zu entführen. Was soll ich sagen? Sieben Monate später hat sie ihn geheiratet.
Behutsam setze ich mich auf den Stuhl und streiche mit einem Finger über den staubbedeckten Tisch. Ich frage mich, warum wir nie nachgeforscht haben, wem dieses Haus gehört oder gehört hat. Wahrscheinlich hat es uns einfach nicht interessiert. Wir waren wie Kinder, obwohl er schon fast vierzig war, als er starb.
Da ich gern grüble, frage ich mich etwas anderes. Warum bin ich nie hierhergekommen? Trauer kann es nicht gewesen sein, weil ich kein sonderlich emotionales Mädchen bin. Das Leben passiert einfach. Dinge geschehen, weil sie geschehen müssen.
Mir wird langweilig vom Herumsitzen, also gehe ich ins Nebenzimmer. Im ersten Moment erschrecke ich mich. Der Flügel. Er steht noch da. In derselben Ecke wie früher. Ohne Hocker. Und eine der vergilbten Tasten fehlt. Ich weiß immer noch nicht, welcher Ton das ist, weil ich unmusikalisch bin. Naja, nicht ganz.
Mit zitternden Händen gehe ich auf die Klaviatur zu und lege meine Finger auf die Tasten. Hoffentlich kann ich mich erinnern. Ich drücke einfach zu. Es klingt schrecklich schief. Betend durchforste ich mein Gehirn und brauche ziemlich lange, bis es einigermaßen so ist, wie es sein soll. Bestimmt hört sich mein Spiel für einen richtigen Pianisten gruselig an, doch mir ist das egal.
Stundenlang stehe ich da krumm an dem alten Flügel in dem alten Haus und haue in die alten Tasten. Ich spiele dieses eine Kinderlied, das er mir beigebracht hat. Endlich kann ich weinen. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich in der Lage, ehrliche Tränen fließen zu lassen.
Und plötzlich weiß ich, wozu ich geboren bin. Spiele für meinen Onkel und träume von meiner Zukunft.

Bildergeschichten - Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt