1. Kapitel (Melissa)

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Weiße Schneeflocken fallen langsam vom grauen Himmel, legen sich auf den kalten Stein. Ich starre in das dichte Schneetreiben, doch das einzige was ich sehen kann, sind die schemenhaften Umrisse der anderen Grabsteine um mich herum. Ich senke meinen Blick auf das Grab zu meinen Füßen. Margret Summers & Daniel Summers – steht dort in den Stein gemeißelt. Sie leben in der Erinnerung weiter, denn tot ist nur, wer vergessen ist. Mit ausdrucksloser Miene betrachte ich das Grab meiner Eltern. Eine alte Frau, die sich mit ihrem Stock unsicher durch den Schnee kämpf, klopft mir im Vorbeigehen mitfühlend auf die Schulter.

Vor etwa einer Stunde war das Begräbnis. Alle Verwandten sind in schwarzer Trauerkleidung um die kalte Grube herumgestanden. Die meisten hatten geweint - ich nicht. Stattdessen starrte ich nur auf die zwei weißen Särge, die vor der Grube standen und mit bunten Blumen geschmückt waren. Meine Verwandten hatten geglaubt, ich sei wahrscheinlich viel zu schockiert, als dass ich weinen könnte. Ein weit entfernter Onkel hatte sogar leise vorgeschlagen, mich in psychische Behandlung zu geben, er wolle selbstverständlich die Kosten dafür tragen. Einzig und allein meine beste Freundin Pia und ihre Eltern hatten mich verstanden. Sie waren die Einzigen, die verstehen konnten.

Das ist absurd, denke ich und schüttle unwillkürlich den Kopf. Meine Eltern sind nicht tot. Das hoffe ich zumindest. Jedenfalls liegen sie nicht in diesen Särgen. Sie sind entführt worden. Entführt von jemanden, den alle nur den „Dunklen" nennen. Niemand weiß seinen richtigen Namen und die, die ihn wissen, haben nicht den Mut ihn auszusprechen. Zu viel Schreckliches hat er dieser Welt angetan. Zu viele Leben hat er ausgelöscht und zu viele Familien hat er zerstört. So wie jetzt meine. Er hatte keinen Unterschied zwischen "normalen" Menschen und der Gemeinschaft der Wächter gemacht. Ja, es gibt Wächter. Sie leben mitten unter uns und achten darauf, dass die vier Elemente im Gleichgewicht bleiben. Ich bin selbst eine Wächterin, genauso wie meine Mum, Pia und ihre Eltern. Deshalb ist Pias Familie auch die Einzige, die mich verstehen kann. Sie sind die Einzigen, die wissen, dass in den Särgen nichts ist, als abgestandene Luft. Und dass meine Eltern noch immer irgendwo dort draußen sind und leben – hoffentlich.

Ich schreckte hoch. Tränen rannten mir still über die Wangen. Ein Windstoß bauschte die langen weißen Vorhänge auf und gab den Blick auf die, mit Straßenlaternen schwach erhellte Straße vor dem Fenster frei. Ich konnte nicht viel vom Himmel sehen, da die gegenüberliegende Häuserzeile mir die Sicht versperrte, doch über dem Dach der Familie Rockford konnte ich einige Sterne und eine kleine Ecke des Vollmondes ausmachen.

Ich versuchte mich zu beruhigen. 'Nur ein Traum', dachte ich, 'Es war alles nur ein Traum.' Doch es war so echt gewesen. Der Friedhof, das Grab und die alte Frau. Noch immer glaubte ich ihre Berührung zu spüren. Seit ich letzte Woche zu Pias Eltern gezogen war, hatte ich öfter Alpträume, da war dieser heute Nacht noch harmlos. Als ich noch in der Schule war, hatten mich Tests, Hausaufgaben und Aufsätze abgelenkt, doch nun, wo ich so viel Freizeit hatte, wanderten meine Gedanken oft zurück zu meinen Eltern. Ich stellte mir die schönsten Momente mit ihnen vor und jedes Mal wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich viel zu wenig Zeit mit ihnen verbracht hatte. Dann wollte ich am liebsten jedes Wort zurücknehmen, das ich ihnen ins Gesicht geschrien hatte, als ich wütend auf sie war.

Obwohl ich wusste, dass meine Eltern nicht tot waren, fühlte es sich dennoch so an. Wieso sollten sie noch am Leben sein, wenn sie in den Fängen des schrecklichsten und mächtigsten Wächters waren, der sich nicht davor scheute, sie umzubringen. Obwohl, wenn ich so darüber nachdachte, würde er sie wohl nicht einmal selbst umbringen? Mit so einer Drecksarbeit würde sich „der Dunkle" sicherlich nicht beschmutzen.

Pia drehte sich neben mir mit einem leisen Schnarchen auf die andere Seite. Ich wünschte, ich könnte auch so friedlich schlafen wie sie, doch wenn ich einmal aufgewacht war, ganz besonders nach einem Alptraum, konnte ich kein Auge mehr zutun. Also schlug ich die Decke zur Seite und schob mich langsam aus dem Bett, darauf bedacht, keinen Lärm zu machen.

Die Prophezeiung - ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt