10. Kapitel (Melissa)

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Eine Ladung lauwarmen Wassers am nächsten Morgen ließ mich aus dem Schlaf hochfahren. Auf meinem Schoß kniete Marlene und wischte mit einem Geschirrtuch den Tee von meiner Bettdecke.

„Es tut mir so leid, Melli", sagte sie und stellte die nun leere Tasse auf dem Nachtisch ab, „Ich wollte dir eine Tasse Tee bringen, aber sie war so heiß und als ich mich verbrannt habe, ließ ich sie vor Schreck fallen."

„Tja, jetzt bin ich wenigstens richtig munter", antwortete ich mit einem schiefen Grinsen und stieg aus dem Bett.

„Sind Pia und Câi in der Küche?"

„Ja, sie sind auch erst aufgestanden." Ich nickte Marlene kurz zu und tapste barfuß aus dem Zimmer in die Küche.

Pia stand am Herd und kochte Eier, während Câi drei Teller mit dem dazugehörigen Besteck durch den Raum schweben ließ und sie unter lautem Geklapper auf dem Tisch absetzte.

„Morgen", sagte ich und ließ mich auf den Küchenstuhl fallen, „Wo habt ihr denn Tom gelassen?"

„Der ist mit Mum zum Supermarkt einkaufen", antwortete Pia, „Willst du auch ein weichgekochtes Ei?"

„Nein, danke. Ich bleibe bei meinem Nutellabrot. Aber du könntest Wasser kochen, für den Tee. Marlene hat ihn mir auf den Schoß gekippt."

„Einmal Wasser für den Tee, kommt sofort", meinte Pia, füllte Wasser aus der Leitung in meine Tasse und brachte es nach einem kurzen Fingerschnippen zum Kochen. Sie versenkte darin einen Teebeutel und ich ließ den Tee mit einer kurzen Handbewegung zu mir an den Tisch fliegen.

„Es ist schon toll, alle Elemente beherrschen zu können", sagte ich und beförderte eine Scheibe Toastbrot von der Küchenanrichte zu mir auf den Teller und toastete es, in dem ich meine gespreizte Hand langsam über dem Brot zusammenkrümmte.

„Wem sagst du das", entgegnete Câi, „Es wäre so viel leichter gewesen, wenn ich schon früher gewusst hätte, was ich kann."

„Aber jetzt weißt du es und kannst es in vollen Zügen genießen", meinte Pia und ließ sich auf den Stuhl gegenüber von ihr fallen. Ich bestrich mein frisch getoastetes Brot dick mit Nutella und biss ein großes Stück davon ab.

„Aber jetzt heißt es erst einmal wieder Schule", sagte ich und schluckte den Bissen hinunter, „Und wir müssen unbedingt nach den restlichen Schicksalswächtern suchen."

„Ja, ich weiß. Aber lass es mich wenigstens jetzt noch ausnutzen, nichts zu tun, okay?", erwiderte Pia und nahm einen Schluck heiße Milch.

„Es ausnutzen!? Ich hatte jeden einzelnen Tag dieser Ferien ein schlechtes Gewissen nicht weiter gesucht zu haben. Jedes Mal bekam ich einen Gewissensbiss, weil ich nichts tat und du kannst das genießen!?", fragte ich ungläubig und starrte Pia an. Die sah jetzt etwas betreten auf ihren krümeligen Teller.

„Tut mir leid, Melli. Ich habe nicht nachgedacht."

„Offensichtlich", meinte ich spitz und schluckte den letzten Bissen meines Brotes hinunter, bevor ich aufstand, „Ich muss noch etwas einpacken. Ihr kommt dann nach, oder?"

„Bitte sei nicht sauer auf mich!", rief mir Pia hinterher, doch ich ging stur den Flur entlang zu ihrem Zimmer.

Als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, sank ich auf den Boden und begann zu schluchzen. Sie hatte keine Ahnung, wie es mir ging. Sie hatte keine Ahnung, wie es war, mit der Ungewissheit zu leben. Kannte das Gefühl nicht, sich nicht sicher zu sein, ob die Eltern überhaupt noch am Leben waren. Wusste nicht wie es war, zu denken, dass man machtlos war und ihnen nicht helfen konnte.

Ich wischte mir die Tränen mit dem Ärmel weg und atmete tief durch. Die Fassung zu verlieren half genauso wenig.

Als Pia und Câi eine halbe Stunde später das Zimmer betraten, war mir nichts mehr anzukennen.

„Was war denn los mit dir?", fragte meine beste Freundin und hockte sich neben mich auf das Bett.

„Ich bin mit dem falschen Fuß aufgestanden", gab ich zurück und spielte verlegen mit dem Saum meines T-Shirts, „Mir sind zu viele Probleme durch den Kopf gegangen."

„Aber du kannst doch mit uns reden", sagte Câi und setzte sich ebenfalls neben mich, „Wir sind deine Freundinnen, schon vergessen?"

„Ja, tut mir wirklich leid. Das nächste Mal sag' ich euch Bescheid, wenn ich depressiv werde, okay?", meinte ich und schnitt eine Grimasse.

„Das will ich auch hoffen", erwiderte Pia und drohte mit erhobenem Zeigefinger. Ihre gespielt ernste Miene brachte mich zum Lachen.

„Jaja, schon gut Fräulein Rottenmeier!"

„Wer ist denn das?", fragte Câi und runzelte die Stirn.

„Ach du liebe Zeit, ich vergesse immer wieder, dass du die ganzen Kindergeschichten nicht kennst", sagte Pia bestürzt und schlug sich die Hände vor die Stirn, „Hast du noch nie etwas von Heidi gehört?"

„Nein, woher denn auch? Selbst wenn ich ein Märchenbuch gehabt hätte, wären es chinesische Märchen gewesen und ich schätze die sind etwas anders, als die die ihr kennt."

„Mit dem Unterschied, dass Heidi kein Märchen ist, sondern ein weltbekannter Kinderbuchklassiker", entgegnete Pia während sie aufgestanden und zu ihrem Bücherregal hinüber gegangen war, „Aber vielleicht lässt sich deine literarische Lücke füllen. Fang doch mal mit dem hier an." Sie gab Câi ein Buch, das etwa so dick war, wie eine Hand breit und auf dessen dunkelgrünem Umschlag der Titel „Klassiker aus der ganzen Welt" stand. Câi nahm es entgegen, schlug das Inhaltsverzeichnis auf und überflog die Titel der einzelnen Geschichten:

Eine Weihnachtgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 5

Oliver Twist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 69

Tom Sawyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 713

Robinson Crusoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 953

Die Schatzinsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 1225

„Ach du liebe Zeit!", rief Câi als sie die Nummer der letzten Seite sah, „Das sind ja über tausend Seiten!"

„Hast du etwa gedacht, diese Geschichten sind kurz?", sagte Pia und zog die Augenbrauen in die Höhe, „Das sind gerade einmal fünf der Bekanntesten."

„Und die soll ich alle lesen?", fragte Câi zweifelnd und maß mit den Fingern die Dicke des Buches ab. Pia nickte.

„Das gehört zur Allgemeinbildung. Außerdem sind diese Geschichten nicht umsonst Klassiker. Sie werden dir sicher gefallen." Câi sah noch immer misstrauisch auf den Einband des Buches. Doch dann seufzte sie ergeben und packte den dicken Wälzer in ihren Koffer. Zufrieden betrachtete Pia, wie sie den Reißverschluss mit großer Mühe zuzog.

„Na also, du wirst mir noch einmal dankbar sein", meinte meine beste Freundin mit einem breiten Grinsen und klopfte Câi auf die Schulter. Diese schnitt eine Grimasse und ließ sich wieder aufs Bett fallen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 22, 2017 ⏰

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