"Die Zeiten ändern sich, und wir mit ihnen. Woher könnte dieses Zitat stammen? Vielleicht von einem Wiedersehen mit alten Freunden, oder irgendeinem alten Buch. Vielleicht habt ihr es selbst schon verwendet oder zumindest gehört, und ich denke, es wird euch nicht verwundern, dass dieses Sprichwort schon lange verwendet wird."
Leises Getuschel durchzog den Hörsaal, während der Professor seinen Vortrag hinter sich brachte. Neben den kleinen Gesprächen konnte man vereinzelt das Kratzen eines Stiftes hören, wenn sich einer der Studenten eine Notiz machte, aber ansonsten war es angenehm ruhig.
Ryo gehörte zu denen, die sich Notizen machten, aber er redete mit niemandem. Er kannte niemanden hier, sie waren einfach Leute aus seiner Literaturvorlesung.
Natürlich merkte er, wie sehr dieses Sprichwort auf ihn selbst zutraf. Vor vier Jahren, in der Oberstufe, war er der schüchterne und höfliche Junge gewesen, der das Wohl seiner Freunde oft vor das Eigene stellte.
Und wer war er heute?
Heutzutage war er ein ruhiger, junger Erwachsene der in einer Vorlesung zum Thema Redewendungen saß und möglichst allein durchs Leben schritt. Zwar hielt er den nötigsten Kontakt mit seinen alten Freunden und seinem Vater, aber genau wie sie kümmerte er sich eigentlich nicht um ein mögliches Treffen. Nach allem hatten sie keine Ahnung, wer er war.Nein, inzwischen waren sie einfach außeinandergewachsen. Wer konnte es ihnen verübeln? Yugi hatte den Laden seines Opas übernommen, Jono war mit seiner Schwester Shizuka zusammengezogen und Anzu war nach New York gegangen, um ihren großen Traum zu verwirklichen. Honda hingegen hatte Arbeit bei Otogi gefunden, welcher seinen Spieleladen wieder aufgebaut hatte.
Wahrscheinlich war Otogi der, mit dem Ryo am meisten Kontakt hatte. Sie waren nie wirklich gute Freunde gewesen, aber der Schwarzhaarige hatte sich als sehr fürsorglich herausgestellt. In der Zeit, bevor er zur Uni ging, hatten sie viel Zeit verbracht und waren fast schon Freunde geworden, und er wusste, dass er für Otogi wie ein komischer kleiner Bruder war. Wie das zustande gekommen war wusste er nicht recht, aber es war gut, jemandem zum reden zu haben.
Bis auf Anzu lebten sie alle noch in Domino, aber irgendwie schafften sie es, sich aus dem Weg zu gehen. Besonders, nach Ryos vermeintlichem "Selbstmordversuch" waren sie aus dem Weg gegangen... Bis auf Otogi.
Niemand verstand, warum er sich selbst so verletzt hatte. Keiner wollte glauben, dass ihm die neuen Narben so viel lieber waren als die des Milleniumrings. Die Narben seiner linken Hand versteckte er vor jedem, auch sich selbst, unter einem fingerlosen Handschuh und sollte jemand nach dem Grund fragen, so erzählte er jedes Mal, es sei zu modischen Zwecken. Niemand musste wissen, was er zu verbergen hatte.Wenn man es ganz genau nahm, hatte Ryo nur eine Person, der er richtig vertraute. Otogi war ein Ansprechspartner, aber niemals würde der Weißhaarige sagen, er vertraue ihm. Stattdessen vertraute er einem gewissen Ägypter, der durch eine wesentlich schlimmere Hölle gegangen war, als er selbst.
Zwei Monate nachdem Atemu ins Nachleben gegangen war, und somit auch zwei Monate nach Ryos Zusammenbruch, war Malik mit Rishid nach Domino gekommen und hatte sich nach einer Weile auch mit ihm verstanden. Wie Ryo selbst war der Blonde nur indirekt mit Yugi und dem Rest befreundet, und abgesehen von Rishid war er doch einsam. Ishizu war in Ägypten geblieben, während Malik zumindest einen Schulabschluss in Japan versuchen wollte.
Mit einiger Hilfe des Weißhaarigen war ihm dieser auch gelungen, und dadurch waren sie Freunde geworden. Lernte man den Blonden mal richtig kennen war er gar nicht so schlimm, wenn auch nicht die beste Person. Aber dann wiederum, wer war das schon?
Vorne beendete der Mann gerade seinen Vortrag, als Ryos Gedanken wieder in die Realität zurückkehrten. Er sah kurz auf die Uhr und nahm sich vor, vor den Prüfungen den Kerl neben sich um die Notizen zu bitten.
Wie von selbst schulterte er die Tasche und ging in den Flur, um fast schon nebensächlich das Handy aus der Hosentasche zu ziehen. Es war dasselbe wie vor vier Jahren, da er sich nicht sonderlich darum kümmerte, eines der Dinger überhaupt zu besitzen. Noch dazu waren sie teuer.
Wie immer war keine Nachricht vorzufinden und er seufzte leise, während er die Eingangstür durchschritt und die Überreste der Kirschblüten betrachtete.Es war Ende März und somit der Beginn seines zweiten Studienjahres, nachdem er einige Monate in einer "psychologischen Betreuung", wie sie es ausgedürckt hatten, befand und danach sich noch eine ganze Weile mit einem Therapeuten auseinandersetzen durfte.
Aber dann hatte er letztes Jahr endlich angefangen mit dem lang ersehnten Studium. Wer sein halbes Leben auf gute Noten und eine gute Ausbildung gesetzt hatte, wollte natürlich auch etwas erreichen, und so war die Uni für ihn ein guter Zeitvertreib.
Manchmal, wenn er durch das Tor des Schulgeländes trat, dachte er über die Enttäuschung seines Vaters nach. Das war das letzte Mal, dass er mit seinem Vater wirklich von Auge zu Auge geredet hatte. Seither waren es nur kurze Anrufe und immer noch monatliches Geld, da der Mann "dennoch sein einziges Kind unterstützen wolle". Ryo war das gerade recht, so musste er neben der Uni nicht allzu viel arbeiten.
Trotzdem fühlte er sich manchmal schuldig. Hatte sein Vater nicht immer gehofft, dass er auch Archäologe werden würde? Oder zumindest das Museum weiterleiten würde?
Aber nein, jetzt wollte Ryo auf einmal etwas mit Sprachen und Literatur machen. Geschichte ging ihm, auf gut Deutsch, am Arsch vorbei und nach allem, was ihm passiert war, war es ja auch verständlich.
Besonders vom antiken Ägypten hatte er genug.
Hatte er eine genaue Ahnung, was er machen wollte? Nein, nicht wirklich. Vielleicht wollte er Bücher schreiben oder Lehrer werden, vielleicht aber auch Dolmetscher. Oder er endete einfach an der Tankstelle oder im Supermarkt um die Ecke. Er hatte schlichtweg noch keine Idee.Während er gedankenverloren die Innenstadt erreichte, hörte er hinter sich eine bekannte Stimme, die seinen Namen rief. Er blieb stehen und drehte sich mit einem leichten Lächeln um, um Malik ins Gesicht zu blicken.
Dieser kam winkend auf ihn zugerannt und blieb nur Zentimeter vor ihm stehen, um dann den Griff seiner Umhängetasche zurecht zu rücken. Dann grinste er zur Begrüßung und beide begannen, zu laufen.
Es war zu einem kleinen Ritual geworden, seitdem auch Malik dieses Jahr ein Studium angefangen hatte. Es hatte lange genug gedauert, einen vernünftigen Schulabschluss zu bekommen, aber jetzt hatte er es endlich geschafft und hatte seinen Plan, Psychologie zu studieren, begonnen.
Auf die Frage, wieso er ausgerechnet Psychologie nahm, hatte er eine simple Antwort gegeben.Ich habe so viel Leid gebracht, da will ich anderen helfen können. Außerdem verstehe ich mich dann selbst vielleicht ein wenig mehr.
Sie liefen stumm neben einander her, aber anders als bei den meisten Leuten war es keine unangenehme Stille. Die beiden fanden Trost und Freude in der Anwesenheit des Anderen, Worte waren nicht nötig.
DU LIEST GERADE
Haircut
Фанфіки{Yu-Gi-Oh! Fanfiktion, schließt an den Manga an, entstanden aus einem Headcanon} Nach den Ereignissen schneidet Ryo seine Haare kurz. Ist das seine Freiheit vom Ringgeist?