Kapitel 10

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Die Katastrophe brach über uns, als niemand es erwartete. Ich saß völlig teilnahmslos im Mathematikunterricht und hoffte inständig, dass die Zeit schneller vergehen würde, als ein Handy klingelte. Einige Schüler fingen an zu husten, wahrscheinlich um den Handybesitzer zu schützen, als meine Lehrerin, die auch gleichzeitig die Direktorin der Schule war, in ihre Tasche griff. „Ihr braucht nicht zu husten, es ist meins." Einige Schüler lachten, andere sahen weiterhin gelangweilt aus dem Fenster und hatten es wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen. Und ich? Mein Blick war auf meine Lehrerin gerichtet, der alle Gesichtszüge entglitten waren. Irgendwas stimmte hier nicht, das wusste ich. Auch die lachenden Schüler schienen ein wenig Menschenkenntnis zu beweisen, was sehr untypisch für eine High-School war, und verstummten langsam. Als Mrs. Carpeitsch schließlich auflegte, hätte man eine Stecknadel im Klassenraum fallen hören können. Man sah es schließlich nicht alle Tage, dass eine Lehrerin so die Fassung verlor. Sie war schon gefühlte Jahrzehnte Lehrerin an dieser High-School, vermutlich hatte sie schon sehr viel erlebt.

„Wisst ihr", räusperte sie sich mit ihrer krächzenden Stimme und wischte die Gleichungen von der Tafel. „Wir werden Mathe heute einmal ignorieren." In mir breitete sich ein ungutes Gefühl aus und ich spürte, wie mein Herz schneller klopfte. Hilfesuchend drehte ich meinen Kopf nach links, doch natürlich war der Platz leer. Belle war vor einer Woche gestorben, am Freitag vor genau einer Woche hatte ich von ihrem Tod erfahren – und irgendwie fühlte ich mich stark daran erinnert. Mein Vater war am Freitagmorgen in mein Zimmer gekommen, sein Blick war voller Trauer. Dann hatte er mir mit krächzender Stimme gesagt, dass meine beste Freundin tot sei. Gerade heraus. Zuerst hatte ich es für einen Scherz gehalten und ihn angeschrien, dass das nicht lustig war. Erst als mein Vater anfing zu weinen, hatte ich es geglaubt.

„Mrs. Carpeitsch?", hakte Brian, der Footballstar der Schule, nach. Selbst seine Stimme klang ein wenig wackelig, was ich von einem Toastbrot wie ihm niemals erwartet hätte. Es war offensichtlich, dass mit der alten Lehrerin etwas nicht stimmte – trotzdem hätte ich es ihm nicht zugetraut, es zu verstehen. Eigentlich hatte ich Jubelschreie meiner Mitschüler erwartet, weil Mathe heute ignoriert werden durfte. In meiner ganzen High-Schoolzeit war dies noch nie vorgekommen. Wahrscheinlich waren deshalb alle, einschließlich mir, so beunruhigt. „Ich hatte gerade Mr. Sullivan dran." Ihre Stimme zitterte und ich spürte, wie auch ich meine Hand nicht mehr ruhig halten konnte. Warum sollte mein Vater meine Lehrerin anrufen und warum war meine Lehrerin so beunruhigt? „Und", sie brach ab und atmete einmal tief durch. „Heute Morgen wurde eine Leiche gefunden." Aufgeregtes Getuschel setzte ein, doch ich beteiligte mich nicht und starrte weiterhin unsere Lehrerin an. Weshalb erzählte sie uns das? Normalerweise wurde sowas, so gut wie möglich, unter Verschluss gehalten.

Erst als das Tuscheln wieder abbrach, fuhr sie fort. „Ich erzähle euch das alles, weil es euch betrifft. Es handelt sich... das Mädchen. Es ist..." Zum wiederholten Male brach sie ab. Fast schon erschrocken musste ich feststellen, dass sie Tränen in den Augen hatte. „Es ist Victoria. Victoria Scout." Ich brauchte einen Moment, um ihre Worte zu verarbeiten. Erst als irgendwer aufschluchzte, wurde mir die Bedeutung ganz bewusst. Victoria Scout war nun eine kalte, leblose Hülle. Sie war aus meinem Jahrgang, ich belegte Sport und Biologie zusammen mit ihr. In den zwei vergangenen Jahren hatten wir kaum miteinander gesprochen, wir gehörten einfach zu unterschiedlichen Kreisen, doch auch Victoria war eine Tochter gewesen. Und die beste Freundin von jemanden.

Nun traten auch mir erneut Tränen in die Augen, während erneut ein Tumult losbrach. Wenn ich mich richtig erinnerte, war sie gerade einmal 18 Jahre alt gewesen. Wie konnte das fair sein? „Hat sie sich auch umgebracht?", hörte ich Brian über die verschiedenen aufgeregten Stimmen hinweg fragen. Auch. „Ich kann es euch nicht beantworten, noch nicht. Ich weiß nur, dass es Victoria ist. Ich gehe davon aus, dass es heute Nachmittag eine Pressekonferenz geben wird, bei der-" Mehr hörte ich nicht mehr, da ich innerhalb von wenigen Sekunden meinen Rucksack auf den Schultern trug und aus dem Klassenraum herausstürmte. Ich lief so schnell ich konnte aus der Schule heraus, denn im Gebäude hatte ich das Gefühl zu ersticken. Belle war mir vor einer Woche genommen worden, nun war ein weiteres Mädchen tot. Warum war das Leben so unfair?

In einer Decke umhüllt saß ich auf dem Sofa und starrte auf unseren Fernseher, der einen langen Tisch und fünf Platzkärtchen zeigte. Mrs. Carpeitsch hatte Recht behalten – es war nun gleich 15:00 Uhr und die Pressekonferenz würde gleich beginnen. „Kann ich dir einen Tee bringen, Schatz?", unterbrach meine Mutter, die neben mir saß, die angespannte Stille. Schnell schüttelte ich den Kopf, ohne meinen Blick von dem Fernseher abzuwenden. „Und du bist dir wirklich sicher, dass du dir das anschauen willst? Natalia, ein Mädchen ist gestorben. Ein Mädchen, das du kanntest. Vielleicht solltest du nicht-" – „Ich werde mir das anschauen, Mom. Belle hat sich nicht selbst umgebracht", fiel ich ihr ins Wort. Meine Mutter seufzte laut auf, sagte allerdings nichts mehr. Irgendwie hatte ich schon fast ein schlechtes Gewissen, denn ich war nicht so sehr an Victorias Tod interessiert, sondern vielmehr daran, wie er mit Belles zusammenhing. Vielleicht würden wir endlich die Wahrheit erfahren, vielleicht würde ihr Tod endlich nicht mehr als Selbstmord abgetan werden.

Um Punkt 15:00 Uhr traten die wichtige Personen dieser Stadt hinter den Tisch: der Bürgermeister, der Polizeichef aus Chicago, mein Vater und zwei Leute, die ich nicht kannte. Aber auch sie trugen eine Polizeiunform und ein Jackett darüber. Als alle saßen, räusperte mein Vater sich und begann, zu erzählen. Endlich. „Heute Morgen gegen 5 Uhr nachts wurde die Leiche der 18-jährigen Victoria Scout gefunden. Wir wollen erst einmal im Namen der Stadt den Angehörigen Kraft zusprechen und ihnen unser Beileid ausdrücken." Für einen winzigen Augenblick wurde es still, nicht einmal die Kameras im Raum der Pressekonferenz klackten. „Zu den Todesumständen können wir noch nicht so viel sagen. Wir wissen, dass sie eine Platzwunde an der Stirn hatte vermutlich durch einen stumpfen Gegenstand. Außerdem wissen wir, dass sie etwa zwei Meter unter der Erde gefunden worden ist. Sie wurde in einer Kiste vergraben. Der Tod von Victoria Scout war Mord."

Mein Herzschlag setzte zum wiederholten Male an diesem Tag aus. Sie war genauso wie Belle umgebracht worden. „Leider müssen wir noch eine weitere Nachricht überbringen", setzte der Bürgermeister an und löste damit den General ab. Letzterer starrte beschämt auf den Tisch. Was würde geschehen? „Vor genau einer Woche wurde der Selbstmord von Abigail Roberts bekannt gegeben. Nun, das Mädchen hat sich nicht selbst umgebracht. Sie wurde genau auf die gleiche Art und Weise umgebracht, wie Victoria Scout. Wir gehen davon aus, dass es sich um denselben Täter handelt."

Wir hatten einen Serienmörder in Evanston.

Der Totengräber ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt