Kapitel 11

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„Das ist nicht möglich", war das Erste, was meine Mutter von sich gab, während ich weiterhin auf unseren Fernseher starrte. Sie hatten es gerade verkündet, sie hatten zugegeben, dass der Tod meiner besten Freundin kein tragischer Selbstmord war. Nein. Vielmehr war es Mord gewesen – und dieser Mörder hatte nun ein zweites Mal zugeschlagen. „Meinst du dein Vater wusste davon?", fragte meine Mutter entrüstet nach, doch ich schenkte ihr nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit. Momentan war es viel wichtiger zu erfahren, weshalb das alles geschehen war und wer dafür verantwortlich war.

„Ich muss Sie alle um einen kurzen Moment Ruhe bitten, ich werde all ihre Fragen beantworten", rief der Bürgermeister bei der Pressekonferenz, die noch immer live übertragen wurde. Nach seiner Aufforderung blieben die dort anwesenden Journalisten, die alle möglichen Fragen geschrien hatten, tatsächlich still. „Sie werden sich sicherlich alle fragen, wie man einen Erstickungstod in einer vergrabenen Kiste als Selbstmord behandeln kann... Nun ja." Der Bürgermeister räusperte sich erneut, während mein Herz mittlerweile bis zu meiner Brust schlug. Was würde er sagen? Zwar hatte ich meine eigenen Theorien, war jedoch noch nicht in der Lage dazu gewesen, sie zu überprüfen. Trotzdessen würde ich nun die Wahrheit erfahren, Belle würde endlich ein Teil der ihr zustehenden Gerechtigkeit zurückbekommen. Und das war das Wichtigste. Belle.

„Kingsley Roberts hat den ermittelten Beamten eine Menge Geld geboten, damit sie den Tod seiner Tochter als einen Selbstmord ahnden. Gegen die beiden Polizisten läuft mittlerweile ein Ermittlungsverfahren. Mr. Roberts hingegen sitzt bereits seit wenigen Stunden in Untersuchungshaft für den Doppelmord an den jungen Schülerinnen." Mit offenen Mund starrte ich Löcher in den Fernseher und Tränen traten mir in die Augen, während ich seine Worte langsam realisierte. Kingsley Roberts. Belles Vater. Die Beziehung der beiden war nie perfekt gewesen, denn Belles Eltern hielten nie etwas von ihren großen Träumen. Sie wollten, dass Belle später einmal die chirurgische Praxis der Familie übernimmt – doch meine beste Freundin wollte immer nur eins: Schauspielerin werden. Allerdings waren beide Träume zerplatzt, da ihr ihre Zukunft komplett genommen worden war. Wäre ihr Vater wirklich dazu in der Lage gewesen?

Vor wenigen Sekunden noch war ich erleichtert gewesen, dass es einen Abschluss geben würde. Das ich mit dem Thema anschließen konnte und in Ruhe um den Verlust meines Lebens trauern konnte. Nur fühlte es sich nicht wie ein Abschluss an. Egal wie sehr ich versuchte zu glauben, dass ihr eigener Vater sie auf eine so grausame Art umgebracht hatte, schaffte ich es nicht. Mir war bewusst, dass er die Polizei bestochen hatte, um den Mord zu vertuschen. Machte ihn das automatisch zum Mörder? Nein. Das alles hier war falsch. Es fühlte sich nicht wie der erhoffte Abschluss an, sondern wie der Anfang von etwas schrecklichem.

„Natalia? Ist alles in Ordnung?" Zum ersten Mal wandte ich den Blick von dem Fernseher ab und sah in die braunen Augen meine Mutter, die mich besorgt musterte. „Ja. Ich meine nein. Glaubst du, dass das Ende ist? Meinst du wirklich, Kingsley hat seine eigene Tochter umgebracht? Ich war so oft bei Belle in diesen 13 Jahren. Er ist doch kein Mörder, Mom." – „Ach Schatz. Ich weiß, dass das schwer für dich sein muss. Du warst die einzige, die fest daran geglaubt hat, dass sie sich nicht umgebracht hat und du hattest Recht. Mehr kannst du nicht für Belle tun. Die nächsten paar Wochen werden ziemlich hart werden für dich, aber nun kommst du nicht mehr darum herum zu akzeptieren, dass Belle nun einmal tot ist."

Wusste sie überhaupt, was sie da gerade von sich gab? Akzeptanz von Dingen, die nicht der Wahrheit entsprachen, war noch nie meine beste Fähigkeit gewesen. Das sollte sie als meine Mutter eigentlich am besten wissen. „Glaubst du wirklich, Kingsley hat seine Tochter umgebracht?", fragte ich sie erneut, ohne auf ihr vorher gesagtes einzugehen. „Ich weiß es nicht. Das wird die Polizei schon noch herausfinden. Weißt du, manchmal sind Menschen ganz anders, als man sie sieht. Wir können das nicht beurteilen, Natalia. Das müssen wir nun der Polizei überlassen." Sie redete mit beruhigender Stimme auf mich, was mich in diesem Moment noch wütender machte. Warum wurde ich bloß in letzter Zeit so schnell wütend?

Innerhalb weniger Sekunden war ich aufgesprungen, hatte mir eine dünne Jacke übergeschmissen und meinen Schlüssel sowie mein Handy eingesteckt. „Was hast du vor?" – „Ich muss zur Arbeit." Ich ignorierte die Rufe meiner Mutter, die mich bat, hier zu bleiben. In diesem Haus würde ich es gerade keine Minute länger aushalten. Entschlossen ging ich auf die Tür zu, rief meiner Mutter noch einen Abschied zu und verschwand schleunigst, bevor sie mich aufhalten konnte.

Anders als ich es meiner Mutter gesagt hatte, ging ich nicht zur Arbeit, obwohl ich meine Schicht um 16:00 Uhr hätte antreten müsste. Stattdessen saß ich nun wieder am Strand, beobachtete die Wellen dabei, wie sie den Sand langsam auflösten und ihn immer weicher machten, bis er schließlich nur noch feuchter Matsch war. Irgendwie fühlte ich mich in diesem Moment wie der Sand und die Pressekonferenz war eine weitere Welle gewesen. Wie viele konnte ich noch aushalten, bevor ich mich auflöste?

Ich wusste nicht, ob ich der Polizei weiterhin vertrauen konnte. Hatten sie dieses Mal die Wahrheit gesagt oder war es nur eine weitere Lüge, um irgendwen zu schützen? Es ging einfach nicht in meinen Kopf, dass er seine eigene Tochter getötet haben könnte. Genauso wenig wie das andere Mädchen, Victoria Scout. Zu ihr hatte er keinerlei Verbindung gehabt, zumindest nahm ich das an, also warum sie töten?

Eine weitere Sache, die in meinen Kopf keinen Sinn ergab, war das der Bürgermeister von zwei Polizisten gesprochen hatte. Mit keinem einzigen Wort hatte er meinen Vater erwähnt, der neben ihm saß und unschuldiger denn je aussah. Dabei wusste mein Vater auch, dass Belle sich nicht selbst umgebracht hatte. Warum lief gegen ihn keine Ermittlung? Warum durfte er noch immer neben dem Bürgermeister sitzen? Es ergab keinen Sinn, das alles nicht. Außerdem zweifelte ich stark an der Glaubwürdigkeit des Bürgermeisters und des Sheriffs. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass jemand von ganz oben in dieser Stadt lügen würde.

Tief ausatmend wischte ich mir zum wiederholten Male die Tränen aus den Augen, die wieder unbemerkt und still über meine Wange gelaufen waren. Langsam war ich es so Leid zu weinen, ich musste anfangen, stärker zu werden. Für Belle. Für das, was ich als nächstes vorhatte. Der Gedanke an Belle und daran, was ihr wiederfahren war, ließ mich mein Handy aus meiner Jackentasche ziehen. Ganz langsam öffnete ich mein WhatsApp und tippte die Nachricht an Alexander ab.

>Heute Abend steht noch. Das war nicht das Ende, das war der Anfang.< 

Der Totengräber ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt