Kapitel 15

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Für einen Moment war alles still in den Polizeiwagen. Selbst dem General schienen die Worte zu fehlen. Wir alle brauchten einen Moment, um zu realisieren, was das zu bedeuten hatte. Sie hatten den Falschen. Vermutlich wäre ich stolz auf meine richtige Intuition gewesen, wenn der Officer nicht gerade bestätigt hätte, dass der Serienmörder noch immer durch Evanston lief. Und noch immer mordete. Ob es auch wieder ein junges Mädchen gewesen war? Eine Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper und ich merkte, wie Übelkeit in mir aufstieg. Belle war nur der Anfang gewesen.

  „Bitte wiederholen." Die Stimme meines Vaters zitterte, er klang, als wenn ihn jegliche Kraft verlassen hätte. Verständlicherweise. „Es ist wieder ein junges Mädchen. Ein Jogger hat das Totenkreuz im Wald am Lake Michigan gefunden und daraufhin angerufen. Er schwört, dass das gestern Abend noch nicht dort war." Ein Totenkreuz? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass in Belles Akte etwas von einem Kreuz gestanden hatte. Ganz im Gegenteil: Sie war zufällig gefunden worden. Es gab also genau zwei Möglichkeiten. Entweder hatten sie das Totenkreuz einfach unerwähnt gelassen oder der Mörder war mutiger geworden. Er wollte, dass die Leiche gefunden wird. Ob er bei Victoria auch schon einen Hinweis hinterlassen hatte? „Die Spurensicherung ist bereits auf den Weg hierher. Das Mädchen hatte keine Ausweispapiere bei sich. Ich vermute jedoch, dass es sich um Larissa Johnson handelt. Sie ist, ich meine sie war, eine Freundin von meiner Tochter."

  Larissa Johnson. Schockiert sah ich zu Alexander, der meinen Blick ebenso erschüttert erwiderte. Larissa war in meiner Klasse gewesen. Zwar war sie nicht gerade eine Freundin, um genau zu sein, hatte ich sie sogar aus tiefstem Herzen gehasst. Doch das spielte keine Rolle. Sie war das dritte Mädchen in meinem Jahrgang, das auf dieselbe bestialische Weise ermordet worden war. Wer war die nächste? „Danke. Ich muss noch kurz Einbrecher auf die Polizeistation in Gewahrsam bringen. Danach mache ich mich sofort auf den Weg zu Ihnen." – „Aber Dad! Ich hatte Recht. Eigentlich solltet ihr mir dankbar sein. Ich habe an einem Abend mehr herausgefunden als ihr in einer Woche und trotzdem wollt ihr mich und Alexander in Gewahrsam nehmen? Du willst uns wie Schwerbrecher in einer Zelle verrotten lassen? Das ist nicht fair." Natürlich antwortete er mir nicht.

Nur wenige Minuten später saßen Alexander und ich nebeneinander in der Zelle, in der normalerweise die Betrunkenen ausnüchterten. Es machte mich absolut fassungslos, dass mein Vater es tatsächlich durchgezogen hatte und uns in diese Zelle gesteckt hatte. Schließlich war ich seine Tochter. Nachdem der General uns hier eingesperrt hatte, war er einfach wieder davongefahren. Ob wir hier die ganze Nacht verbringen würden? Mein Blick glitt zu Alexander, der seine Augen geschlossen hatte, und seinen Kopf gegen die Zellenwand lehnte. Er sah fast so aus, als wenn er schlafen würde. Warum rastete er nicht aus? Meine Gedanken überschlugen sich. Mal dachte ich an mich und diese Zelle und mal an Larissa. Irgendwie bezweifelte ich, dass die Polizei nun den richtigen Täter finden würde. Alexander und ich würden weitermachen, denn ein Verdächtiger war noch auf meiner Liste. Mason. Die weiteren Mädchen hatten nichts an meiner Theorie geändert. Wenn jemand so kalt war, sowas schreckliches zu tun, dann war es Mason Coleman mit seinen eisblauen Augen.

  „Ich glaube nicht, dass Toran der Mörder ist", brach ich die Stille zwischen uns. Augenblicklich öffnete Alexander seine Augen und sah mich zweifelnd an. „Du hast die Fotos in dem Notizbuch auch gesehen, Talia. Dieser Mann ist krank." Er hatte Recht, Toran war krank. Diese Fotos waren ekelhaft und der Gedanke an sie reichte, damit ich erneut erschauderte. Wie oft er Belle wohl heimlich beobachtet hatte? Trotzdem glaubte ich nicht, dass Toran der Mörder war. Irgendwas passte nicht... „Aber krank genug um sie und all die anderen Mädchen zu töten? Und warum überhaupt die anderen? Ich glaube, er ist es nicht. Wahrscheinlich ist es das dämlichste Argument aller Zeiten, aber ich kenne Toran schon ziemlich lange. Ich glaube einfach nicht, dass er es gewesen ist. Wir sollten Mason noch überprüfen."

  Auch nach Torans Geschichte über seine Vergangenheit und nach dem Fund des Buches glaubte ich nicht, dass er zu solchen Taten fähig war. Mason hingegen... „Weil dieser Einbruch so super lief." Womit er Recht hatte. Verzweifelt überlegte ich und versuchte, für dieses Dilemma eine Lösung zu finden. Ich war es Belle schuldig, und nun auch den anderen Mädchen. Selbst wenn mein Vater mich noch zehn Mal einsperren würde. Dann fiel mir die rettende Idee ein, etwas, das ich letztens auf dem Schulflur aufgeschnappt hatte. „Mason schmeißt doch morgen eine Party. Vielleicht müssen wir gar nicht bei ihm einbrechen. Wir könnten auf diese Party gehen und uns einfach ein bisschen umsehen." Ein leichtes Lächeln bildete sich auf meinen Lippen und auch Alexander sah nicht mehr so betrübt wie vorher aus. Ganz im Gegenteil, ich hatte ihn selten so breit grinsen sehen. „Du bist ein Genie, Talia. Und dass meine ich vollkommen ernst. Wenn wir bis morgen hier rauskommen sollten, werden wir das auf jeden Fall tun."

  Belle wäre stolz auf mich, wenn sie jetzt hier wäre. Ich war nie der Typ, der auf Partys ging. Einer der Gründe dafür war, dass ich meistens arbeiten musste. Außerdem war ich der festen Überzeugung, dass Alkohol Gehirnzellen abtötete. Mason Coleman war hierfür das beste Beispiel. Und nun ging ich wirklich auf eine Party. Gemeinsam mit Alexander. Obwohl es in dieser Situation wieder völlig unangebracht war, spürte ich, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. Natürlich war mir bewusst, dass Alexander in Belle verliebt gewesen war, was auch einer der Gründe war, warum ich niemals eine Chance bei ihm hatte. Belle war einfach eine ganz andere Liga gewesen. Nicht nur, dass sie viel hübscher war, nein. Ihr Charakter war ihre wahre Schönheit und machte sie zur besten Person auf dieser Welt. Nur mein dämliches Herz hatte von diesen Neuigkeiten offenbar mal wieder nichts mitbekommen.

  „Ihr könnt gehen." Ich war so sehr in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wie Officer Basner an die Zellentür getreten war. Einen Moment später schloss er diese gähnend auf. „Einfach so?", fragte Alexander überrascht und der Officer nickte, obwohl es ihm offenbar sehr missfiel. Kein Wunder. Schließlich war Alexander ihm ins parkende Auto gefahren, damit wir unter seiner Aufsicht Belles Akte stehlen konnte. „Einfach so. Sie ist schließlich die Tochter vom Sheriff. Ich glaube, er wollte euch nur ein bisschen Angst einjagen. Außerdem haben wir wichtigere Probleme als zwei halbwüchsige Teenager."

  Schneller als ich es ihm zugetraut hätte, quetschte Alexander sich an dem Officer vorbei und ich folgte ihm hastig. Erst jetzt fiel mir auf, dass Toran überhaupt nicht hier war. Mein Vater hatte ihn nicht informiert. Niemand würde je etwas über den Einbruch erfahren.  

Der Totengräber ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt