Kapitel 29

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Er hatte mir alles genommen.

Die Geschworenen sahen mich noch eine Spur mitleidiger an als vorher. Ich hatte alles verloren wegen Alexander und ich wollte, dass sie das in ihrer Entscheidung berücksichtigen. Auch wenn es mir mit jeder Sekunde schwerer fiel, in dem Saal zu sitzen. „Danke. Keine weiteren Fragen." Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Staatsanwalt zurück zu seinem Platz ging. Den ersten Teil meiner Aussage hatte ich schon hinter mir - doch der zweite würde viel schwerer werden. Denn auf die Fragen der Pflichtverteidigerin hatte mich niemand vorbereiten können.

Schnell senkte ich meinen Blick wieder auf meine Hände, die ich gefaltet in meinem Schoß liegen hatte. Ich wollte die Frau, die versuchte, eine geringere Strafe für diese Bestie auszuhandeln, nicht ansehen. Vermutlich konnte ich es auch nicht, ohne zusammenzubrechen. „Der Herr Staatsanwalt hat gesagt, dass Sie und mein Mandant befreundet waren. Das stimmt aber nicht so ganz, oder? Sie waren in ihn verliebt." Ein weiteres Raunen ging durch den ganzen Saal und ich wünschte mir, im Boden zu versinken. Ich schämte mich dafür, dass ich in ihn verliebt gewesen war. Dass ich nicht gemerkt hatte, was er in Wirklichkeit für ein Mensch war. „Waren Sie in ihn verliebt?", hakte die Staatsanwältin nach. Ich schluckte und überlegte, wie ich ihr antworten sollte, als auf einmal ein tiefes Lachen ertönte.

Bevor ich den Reflex unterdrücken konnte sah ich hoch - und direkt in seine Augen, die eine so vollkommene Kälte und Verrücktheit ausstrahlten, die mir vorher noch nie aufgefallen war. Seine rauen Lippen waren zu einem amüsierten Grinsen verzogen, während er seine Hand hob und mir zum Gruß zuwinkte. „Natürlich hat sie sich in mich verliebt. Sie war dumm und ist auf die ganze Masche hereingefallen. Ich konnte dank ihr jeden Schritt der Polizei herausfinden, ohne ihr Wissen natürlich." Die ganze Zeit sah er mich dabei an. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, sondern sah ihn weiterhin voller Angst an. Voller Abscheu. Mir wurde übel. „Mr. Walters, halten Sie sich zurück", herrschte die Richterin ihn, aber es war schon zu spät. Die Richterin hatte mir versprochen, er könne mir in diesem Saal nichts tun. Aber genau das hatte er gerade.

Erst als er mir zuzwinkerte, gelang es mir, meinen Blick von ihm loszureißen. „Er konnte also offenbar nicht nur schlecht sein, wenn Sie sich so sehr in ihn verliebt haben. Die Staatsanwaltschaft versucht, meinen Mandanten als gefühlskalter Psychopathen darzustellen. Doch das war er nicht." Seine Verteidigerin überging seine Bemerkung, die ihren Job vermutlich nicht einfacher gemacht hatte. Ihre Strategie war offenbar zu beweisen, dass er Gefühle besaß und nicht bloß ein Monster war - auch, wenn er mit jeder Sekunde, die fortschritt, das Gegenteil bewies. „Auf der Party bei Ihrem Mitschüler Mason Coleman haben Sie ihn geküsst. Sie waren ihm dankbar, für seine Hilfe." - „Seine geheuchelte Hilfe, die mich nur davon abhalten sollte, ihn zu enttarnen", entgegnete ich sofort. Zum ersten Mal sah ich seine Verteidigerin an. Sie war eine kleine, untersetzte Frau mit einer perfekt sitzenden Kurzhaarfrisur. Sie strahlte eine Professionalität aus, die mir Angst machte. Augenblicklich bereute ich meinen kleinen Ausbruch.

„Verstehe. Springen wir zu dieser Nacht, Natalia. Sie haben auf ihn geschossen. Dann haben Sie sich auf den Boden gesetzt und meinem Mandanten kaltherzig dabei zugesehen, wie er langsam verblutete durch Ihren Schuss, anstatt einen Rettungswagen zu rufen." Sie sah nun direkt zu den Geschworenen, die nun nicht mehr so viel Mitleid mit mir zu haben schienen. „Das ist nicht wahr! Ich war nicht in der Lage, irgendetwas zu tun. Ich saß auf meinen Zimmerboden und habe geweint, bis mein Vater kam. Ich hatte Todesangst und ich war von dem Menschen hinter gegangen worden, von dem ich es nicht erwartet hatte. Es war nie meine Absicht, ihn zu töten." - „Und trotzdem hätten Sie ihn auf Ihren Zimmerboden sterben lassen." Die Verteidigerin stellte die Situation falsch dar, aber im Grunde genommen, hatte sie Recht. Ich hätte ihn auf meinen Zimmerboden sterben lassen. Vielleicht hatte ein kleiner Teil von mir sich sogar gewünscht, er würde einfach sterben. Vor diesem Teil ekelte ich mich fast genauso viel, wie vor dem, der sich in ein Monster verliebt hatte. „So war das nicht", unternahm ich einen letzten Versuch, doch die Geschworenen hatten mich ebenso schnell abgestempelt wie ihn.

Der Totengräber ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt