Kapitel 14

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Das Haus von Toran war viel ordentlicher, als ich es mir vorgestellt hatte. Selbst der Flur wirkte fast schon steril mit den strahlend weißen Wänden, den feinsäuberlichen Jacken an der Garderobe und dem Schuhregal, in dem ein Paar Turnschuhe nach dem Nächsten stand. Ich versuchte jedes einzelne Detail des Raumes in mir aufzusaugen, denn manchmal waren auch kleine Dinge entscheidend.

  „Und was tun wir jetzt?", Alexander schloss die Tür hinter uns, ehe er neben mich trat und sich ebenfalls neugierig umsah. Das war eine gute Frage. Irgendwie war ich nicht davon ausgegangen, dass wir es überhaupt bis in das Haus meines Chefs schaffen würde, weshalb ich mir keinen Plan überlegt hatte. Im Nachhinein erschien mir das irgendwie dämlich.

  „Äh, wir suchen nach etwas Verdächtigen. Am besten teilen wir uns auf. Du machst das Wohnzimmer, ich fange mit der Küche an", antwortete ich viel selbstsicherer, als ich mich in Wahrheit fühlte, und deutete auf die Räume, die uns am nächsten waren. „In der Küche? Meinst du er hat am Kühlschrank einen Post-it kleben, wo Belle töten draufsteht?" Ich gab mir die beste Mühe, seinen sarkastischen Unterton einfach zu ignorieren, und betrat zielstrebig die Küche. In dieser herrschte das pure Chaos, das einen starken Kontrast zum Flur bildete. Überall stand dreckiges Geschirr herum, Essensreste lagen quer auf dem Tisch verteilt und die Mülleimer quollen von fettigen Pizzakartons über. In mir regte sich das Bedürfnis, die Küche sofort aufzuräumen. Allerdings schob ich das Bedürfnis bei Seite - schließlich brach ich gerade in seinem Haus ein, darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen.

  Vorsichtig durchquerte ich den Raum und scannte jeden Zentimeter der Küche mit meiner Taschenlampe ab. Ich öffnete jeden Schrank mit meinen behandschuhten Händen, nahm den Inhalt wahr und schloss ihn wieder. Die meisten Schränke waren leer, was nicht weiter verwunderlich war. Irgendwo musste das massenhaft herumstehende Geschirr ja normalerweise stehen. Am Kühlschrank fand ich den ersten Hinweis, das sich hier überhaupt jemand in letzter Zeit aufgehalten hatte. Tatsächlich klebte ein blauer Post-it dran: „Mach deinen Scheiß alleine. Ich kündige." Die Kündigung war unterschrieben, aber ich konnte den Namen nicht entziffern. Vermutlich handelte es sich um Torans Putzfrau, die beim Anblick der Küche die Nerven verloren hatte. Verübeln konnte ich es ihr nicht.

  „Ich glaube, ich habe etwas gefunden!", rief Alexander, gerade als ich resigniert die Küche verlassen hatte. Warum konnte er nicht einfach flüstern? Paranoid sah ich mich um, aber natürlich sprang niemand aus den Schatten einer anderen Tür hervor. Mit schnellen Schritten und pochendem Herzen ging ich in das Wohnzimmer, das wieder penibel sauber war. Alexander lehnte an einer Wand und sah interessiert in ein Notizbuch. „Was ist das?", fragte ich ihn leise. Er klappte das Buch zu und warf es mir entgegen. Geschickt fing ich es auf. Während mein Herz immer schneller pochte, klappte ich das Buch mit dem grünen Einband auf und sah, dass es unzählige Fotos von Belle beinhaltete. Fotos, von denen sie wahrscheinlich nicht einmal gewusst hatte.

  Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Mit jedem Bild mehr wurde mir bewusst, was das hieß. Toran hatte meiner besten Freundin nachgestellt und heimlich Fotos von ihr gemacht. Aber hieß das auch, dass er sie getötet hatte? Ich konnte die Bilder nicht mehr ertragen und schlug das Buch zu, ehe ich zu Alexander sah, der ein leicht triumphierendes Grinsen auf den Lippen hatte. „Das ist gruselig. Aber es reicht nicht, um Toran als Mörder zu enttarnen. Wir brauchen mehr." Ich hatte meinen Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da war sein Lächeln schon verschwunden. „Diese Fotos sind einfach nur krank. Meinst du wirklich, dass wir noch mehr brauchen?" Ich nickte und wollte ihm gerade mitteilen, dass ich in den nächsten Raum gehen würde, als die Eingangstür im Flur krachend aufflog.

  „Polizei!" Verdammte Scheiße. Die Stimme meines Vaters hallte durch das Gebäude und ich sah panisch zu Alexander, der ebenfalls nicht glücklich aussah. Voller Panik sah ich mich nach einem Fluchtweg um und entdeckte die Terrassentür. „Sicher!", hörte ich meinen Vater rufen. Sie waren schon bei der Küche. Als nächstes würden sie ins Wohnzimmer kommen. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag durchflutete Adrenalin meinen Körper. Schneller als ich jemals in meinem Leben gerannt war, lief ich auf die Tür zu. Alexander hatte sie vermutlich auch gesehen und hing mir dicht an den Fersen. Innerhalb einer Sekunde war ich an der Tür und wollte sie öffnen. Verschlossen. Verzweifelt rüttele ich an ihr, aber es brachte nichts. Die Tür würde verschlossen bleiben - wir saßen in der Falle.

  „Hände dorthin, wo ich sie sehen kann!", bellte mein Vater, der genau in diesem Moment das Wohnzimmer betreten hatte. Okay. Ich atmete einmal tief durch und hob meine Hände, das Notizbuch noch immer in der Hand. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass mein Klassenkamerad es mir gleichtat. „Und jetzt ganz langsam umdrehen", schrie mein Vater im besten Befehlston. Zögerlich drehte ich mich um und sah direkt in die grünen Augen meines Vaters, die sich vor Schreck weiteten.

  „Natalia?", wisperte er und ließ seine Waffe sinken. Officer Basner tat es ihm gleich. Schluckend sah ich ihn weiterhin fest an und Tränen stiegen in mir Augen. Nicht, weil ich erwischt worden war. Sondern weil ich meinen Vater noch nie mit einem so enttäuschten Gesichtsausdruck gesehen hatte. Dann fiel mir wieder ein, warum ich das alles überhaupt tat. „Bist du wirklich so erschrocken, mich hier zu sehen, Dad? Ihr habt den Falschen! Und das wisst ihr. Wenn ihr nichts tut und dabei zuseht, wie jemand unschuldige Mädchen abschlachtet, schön. Aber ich tue es ganz gewiss nicht!", schrie ich meinen Vater trotzig an, dessen Blick weiterhin auf mir ruhte. Aber anstatt zurückzuschreien, nickte er seinem Kollegen zu. Gleichzeitig setzten sie sich in Bewegung und nur einen Moment später spürte ich, wie mir jemand das Buch abnahm, und meine Hände auf den Rücke packte. Als nächstes war da nur noch das kalte Eisen von den Handschellen um meine Gelenke. Das war ja super gelaufen.

Schweigend saßen Alexander und ich auf der Rückbank des Wagens von meinem Vater, der auch kein Wort sprach. Angespannt sah ich aus dem Fenster. Ich wusste, was sie tun würden. Er ignorierte für einen Moment, dass er mein Vater war, und ging seinen polizeilichen Pflichten nach: Festnehmen, aufs Revier bringen, Verhör durchführen. Als ich klein war, hatte ich meinem Vater gerne bei seiner Arbeit zugeschaut. Deshalb kannte ich den Ablauf selbst in und auswendig. Deshalb wusste ich ebenfalls, dass Toran vermutlich schon auf uns warten würde.

  Innerhalb einer Nacht hatte ich nun alles, was mir noch geblieben war, verloren. Ich würde meinen Job verlieren und ich würde meine Aussichten auf den Studienplatz verlieren. Aber ich hatte es für Belle getan - und ich hatte es gerne für sie getan. Sie hatte ihr Zukunft verloren. Wahrscheinlich war es einfach nur fair, dass ich meine auch verloren hatte.

  „Sheriff, bitte kommen." Das Polizeifunkgerät, das vorne an der Konsole angebracht war, zerriss die Stille. Ich hörte, wie mein Vater aufseufzte. „Ich höre", meldete er sich anschließend zurück. Auf der anderen Seite war es kurz ruhig. Als nächstes ertönte ein Knacken, bevor der Satz kam, den ich niemals wieder vergessen würde.

  „Wir haben eine weitere Leiche gefunden."

Der Totengräber ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt