Kapitel 28

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Es war auf den Tag genau sechs Wochen her, seit der Mörder versucht hatte, mein Leben zu beenden. Genau vor sechs Wochen hatte ich ihn angeschossen, um mein eigenes Leben zu retten – und genau vor sechs Wochen hatte ich festgestellt, dass Alexander hinter all diesen Morden steckte.

Heute war nun der Tag, an dem ich ihn wiedersah und obwohl meine Eltern und mein Psychologe mich umfassend auf diesen Moment vorbereitet hatten, fühlte ich mich nicht bereit dafür. Am liebsten wäre ich augenblicklich aus dem Gerichtsgebäude gerannt, um an einen Ort zu fahren, wo mich niemals wieder jemand finden würde. Doch ich tat es nicht. Ich tat es nicht wegen Belle und den anderen drei Mädchen. Mein Psychologe, mit dem ich nahezu täglich sprach, hatte mir gesagt, ich sei die wichtigste Zeugin in diesem Prozess. Meine Aussage würde darüber entscheiden, wie lange man ihn ins Gefängnis steckte – und ich wollte dafür sorgen, dass er nie wieder herauskam.

„Natalia Sullivan", rief mich die Richterin in den Zeugenstand und ich stand von der ungemütlichen Holzbank, die vor dem Gerichtssaal platziert war, auf. „Du schaffst das, mein Schatz." Mein Vater, der ebenfalls als Zeuge aussagen musste und mich deshalb nicht in den Saal begleiten durfte, warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu. Ich nickte ihm kurz angebunden zu, ehe ich langsam einen Fuß vor der anderen setzte. Eine panische Angst ergriff mich und Schweiß lief mir über die Stirn. Außerdem drohten die Tränen wieder einmal aus mir herauszubrechen. Gleich würde ich ihn wiedersehen. Natürlich war sein Gesicht in allen Zeitungen, flimmerte über alle Fernseherbildschirme. Aber es würde ganz anders sein, nur wenige Schritte von ihm entfernt zu sitzen. Ich hatte Angst und ich empfand Ekel, am meisten vor mir selbst. Es verging kein Tag seit dieser Nacht, in der ich mir nicht selbst die Schuld an den Morden gab. Ich hätte es merken müssen. Seine Bereitschaft, ohne Bedenken eine Straftat zu begehen. Seine Besessenheit von Belle. Und sein teils widersprüchliches Verhalten.

„Natalia Sullivan", rief die Richterin mich erneut auf und ich bemerkte, dass ich vor der Tür zum Stehen gekommen war. Jetzt würde ich durch diese Tür gehen müssen. Ich warf einen letzten Blick auf meinen Vater, der mich sorgevoll anblickte. Er machte sich Sorgen, dass ich diese Zeugenaussage nicht durchstehen würde, auch wenn er mir vor wenigen Momenten gesagt hatte, ich würde das schaffen. Jedoch war das eine Lüge, was wir beide wussten. „Geh." Erneut nickte ich fast schon mechanisch, ehe ich die schwere Holztür aufstieß.

Meinen Blick hatte ich fest auf den Boden gerichtet, während ich den Gerichtsaal durchquerte. Dank meines Psychologen wurde mir die Möglichkeit gegeben, den Gerichtsaal vor Anfang des Prozesses zu betreten. Ich hatte mir jeden Winkel eingeprägt und konnte so zu dem Stuhl neben der Richterbank gehen, ohne aufschauen zu müssen. Meine Angst, ausversehen Alexanders Blick zu begegnen, war zu groß. Auch den Eid hatte ich in Vorbereitung auf diesen Termin auswendig gelernt und ratterte diesen herunter, bevor ich mich auf den gepolsterten Stuhl, der gemütlicher war als die Bank draußen, niederließ.

Ich atmete tief durch, doch konnte nichts gegen die Tränen machen, die meine Wangen herunterliefen. Immer tiefer versank ich in meiner Panik, drohte in ihr zu ertrinken. Wer war auf die Idee gekommen, dass ich das könnte? Gegen ihn auszusagen, während ich seinen Blick auf mir spürte. Überhaupt mit ihm in einen Raum zu sein, brachte mich an die Grenze meines Verstandes. „Natalia, bitte beruhigen Sie sich. Er kann Ihnen nichts tun." Die Richterin sprach einfühlsam mit mir und zum ersten Mal blickte ich nicht nach unten. Stattdessen sah ich die Richterin an, die mir aufmunternd zulächelte. Sie war bereits eine ältere Frau und Falten zogen sich durch ihr Gesicht. Ich wollte ihr glauben, dass er mir nichts tun konnte. Aber ich konnte nicht. Schnell wandte ich meinen Blick wieder ab und sah auf meine Hände. Wann würden sie endlich erkennen, dass ich nicht aussagen konnte? Nichts wollte ich mehr, als diesen Raum wieder zu verlassen.

„Sagen Sie mir Ihren vollständigen Namen." – „Natalia Lauren Sullivan." Meine Stimme klang absolut verängstig und ich hasste sie dafür, dass Alexander wahrscheinlich alle Gefühle aus ihr heraushören konnte. „Wie alt sind Sie?" – „18 Jahre", antwortete ich. Für eine Sekunde wünschte ich mir wieder, fluchtartig den Saal verlassen zu können. Die Angst ließ mich keinen klaren Gedanken fassen und bezweckte, dass sie so hin und her sprangen. In einem Moment war ich mir sicher, die Aussage hinter mich zu bringen und in anderen Momenten wollte ich nur noch weg. „Sie sind mit Alexander auf eine Schule gewesen. Woher kannten Sie sich?" Ich atmete einmal tief durch und sah zu meiner Mutter, ehe ich wieder meine Hände anstarrte. „Meine beste Freundin Belle war mit ihm befreundet, bevor er sie... bevor er sie kaltblütig ermordet hat." Ein Raunen ging durch den Saal und ich war selbst überrascht, dass ich so klare Worte ausgesprochen hatte. „Herr Staatsanwalt. Ihre Zeugin."

Ich hörte, wie der Staatsanwalt auf mich zukam. Bereits einige Male hatte ich mit ihm gesprochen. Er war nett und sehr verständnisvoll, doch ich konnte ihm nicht vertrauen. Niemals würde ich wieder jemand vertrauen können. „Sie waren also mit Alexander befreundet." Es war keine Frage, sodass ich darauf nicht antworten musste. Zumindest hatte er mir das vorher so erklärt. Um Rücksicht auf meine momentane Verfassung zu nehmen, stellte er nur wenige Fragen. Ich musste seinen Aussagen also einfach nicht widersprechen. „Sie haben mit Alexander gemeinsam versucht, den Mörder von Belle ausfindig zu machen. Von Anfang an haben Sie nicht an den Selbstmord Ihrer besten Freundin geglaubt. Sie haben eine Polizeiakte geklaut und sind bei Toran Reyes sowie Mason Coleman eingebrochen, um etwaige Beweise zu finden. Die ganze Zeit hat Alexander Sie unterstützt. Ist das alles richtig?" Schnell nickte ich.

„Können Sie die Geschworenen ansahen und Ihnen erzählen, was in der Nacht vor sechs Wochen passiert ist?" Meine Mutter verstärkte den Druck auf meine Schulter und strich mir mit der anderen Hand sanft durch meine Locken. Sie beschützte mich, sie würde mich immer beschützen. Außer in jener Nacht. Es kostete mich einige Überwindung, meinen Blick zu heben und zu den Geschworenen zu sehen. Die Blicke die mir begegneten waren voller Mitleid, einigen von ihnen schienen interessiert daran, was ich zu erzählen hatte.

„Ich war alleine Zuhause", begann ich mit brüchiger Stimme und spürte, wie mein ganzer Körper anfing zu zittern. Ich wollte nicht mehr an diese Nacht denken. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens gewesen und ich hatte das Bedürfnis, sie für immer zu vergessen. Stattdessen durchlebte ich sie jedes Mal wieder, wenn ich meine Augen schloss. Eine weitere Träne lief meine Wange herunter, doch ich bemühte mich tatsächlich, sie mit den Handrücken wegzuwischen. „Es war schon drei Uhr. Halb vier vielleicht. Und dann habe ich Schritte gehört, die sich meinem Zimmer näherten. Außerdem habe ich gehört, dass der Erzeuger der Schritte etwas hinter sich herzog." Meine Stimme stockte und mein Körper wurde langsam taub, wie er es in der Nacht geworden war. Die aufmunternden Berührungen meiner Mutter rückten in weiter Ferne. Ich sah alles genau vor mir: Wie er in mein Zimmer hereinkam und wie ich schoss. Wie ich weinend auf dem Boden zusammenbrach nachdem das Adrenalin meinen Körper verlassen hatte und als ich erkannte, wer es war. Und wie ich ihm beim Verbluten zugesehen hatte, nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Der einzige Grund, warum er heute hier sitzen konnte, war, weil mein Vater knapp eine halbe Stunde nach dem Schuss aufgetaucht war. Er hatte den Rettungsdienst gerufen, der Alexanders Leben gerade noch retten konnte. Ich hätte ihn, einen echten Menschen, einfach verbluten lassen.

„Fahren Sie fort", bat der Staatsanwalt mich. Ich wiederholte die Atemübung meines Psychologen, wischte mir die Tränen weg, die immer mehr wurden, und sah die Geschworenen wieder an. „Mein Vater hat mir eine Waffe gegeben und mir gezeigt, wie ich mich damit verteidige. Er kam also in mein Zimmer und ich habe einfach geschossen." In meinen Ohren hörte ich den Schuss, den ich abgefeuert hatte. Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig und ich gab es auf, mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Dafür waren es wieder zu viele. „Danke. Das reicht. Sagen Sie mir noch, was mit Ihren Zukunftsplänen passiert ist?" Eine Frage, auf die ich mich auf Anraten des Staatsanwaltes perfekt vorbereitet hatte. Damit sie sahen, was er zerstört hatte. „Ich wollte Jura an der Northwestern in Chicago studieren. Aber seit dieser Nacht war ich nicht mehr in der Schule, sodass ich die Prüfungen verpasst habe. Ich kann meinen Studienplatz nicht annehmen. Alexander hat ihn mir genommen, so wie er mir alles genommen hat." 

Der Totengräber ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt