Kapitel 12

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Mit zwei Stunden Verspätung betrat ich abgehetzt das kleine Café von Toran, der hinter der Theke an seiner geliebten Kaffeemaschine stand und ungeduldig mit dem Fuß auf und ab wippte. Sofort kam schlechtes Gewissen in mir hoch, da ich ihn mal wieder im Stich gelassen hatte und nicht pünktlich zu meiner Schicht erschienen war. Allerdings war gerade das vielleicht seine Schuld, vielleicht war er für den Tod von Belle verantwortlich gewesen. Und von dem anderen Mädchen. Augenblicklich verschwand mein schlechtes Gewissen wieder. Mörder hatten gar kein Gewissen, also wieso sollte ich ein schlechtes haben?

„Natalia,wie schön, dass du auch mal hier bist", begrüßte er mich eisig, sobald ich an der Theke angekommen war. „Es tut mir leid, aber-", setzte ich zu einer weiteren Lüge an, denn es tat mir nicht leid. In letzter Zeit log ich oft, gefühlt den ganzen Tag lang. Als Belle gestorben war, war ein Teil von mir gestorben und die Ehrlichkeit war vermutlich in diesem Teil gewesen. „Ich weiß, dass du eine schwierige Zeit durchmachst", fiel Toran mir ins Wort und wandte sich von seiner Kaffeemaschine ab, um mich anzusehen, „aber ich habe hier ein Geschäft zu führen. Du weißt, dass ich nachmittags zwei Leute hier brauche. Weißt du, was noch vor einer halben Stunde los war? Obwohl ich kenne die Antwort, schließlich arbeitest du jeden Freitag seit Jahren die mittlere Schicht und solltest wissen, dass das alleine kaum zu schaffen ist."Oh hey, da war mein schlechtes Gewissen wieder. Sofort tat es mir leid, dieses Mal wirklich, dass ich nicht einmal abgesagt hatte. Nach allem war es noch immer mein Job, der mir mein Traumcollege finanzieren sollte. Ein Job, wo andere sich auf mich verließen.

„Toran,es tut mir wirklich-" Fast schon gebieterisch hob mein Chef seine Hand, was mich erneut davon abhielt, mich bei ihm zu entschuldigen. „Ich verstehe einfach nicht, warum du diesen Job unbedingt wiederhaben wolltest, wenn du eh nicht erscheinst. Aber ich gebe dir noch eine letzte Chance, alles klar? Vermassele sie besser nicht. Du hast nur noch diese einzige Chance." Er gab mir noch eine Chance. Erleichtert atmete ich aus, obwohl ich nicht wusste, ob mein Job wirklich noch wichtig war. Mein Traumcollege hörte sich plötzlich lächerlich an, da meine beste Freundin niemals auf irgendein College gehen könnte. Trotzdem bedankte ich mich bei dem Menschen, bei dem ich heute Abend einbrechen wollte, und dieses Mal unterbrach er mich nicht. Stattdessen schenkte er mir ein freundliches Lächeln und verabschiedete sich ins Büro, um Bestellungen zu machen. So lief es hier freitags meistens: bei dem großen Rentneransturm zwischen 15:00– 17:00 Uhr waren wir meistens eine Person zu wenig, danach mindestens eine zu viel. Deshalb kümmerte Toran sich um den Bürokram, während ich die Kunden bediente, die sich ab und zu mal in das kleine Café verirrten.

So schnell wie möglich lief ich hinter den Tresen und band mir meine Arbeitsschürze um, bevor ich Toran noch mehr Ärger machten konnte. Danach ging ich dazu über, die sowieso sauberen Tische im Café mit einem Lappen abzuwischen. Dieser Tätigkeit ging ich solange nach, bis eine Kundin mich aus der Arbeit befreite. Sofort stellte ich mich hinter die Theke und lächelte dem Mädchen zu, das mir irgendwie bekannt vorkam. „Guten Tag", grüßte ich sie freundlich, obwohl mein Lächeln sich falsch anfühlte. Mein Lächeln war ebenfalls gestorben. Auch das Mädchen mit den kurzen roten Haaren schien keinen guten Tag zu haben, ihre Mundwinkel zuckten nicht einmal. Dabei war Höflichkeit in einer Kleinstadt sehr wichtig. „Habt ihr auch Alkohol?" Überrascht sah ich sie an, während ich darüber nachdachte, ob sie diese Frage wirklich ernst gemeint hatte. Sie war ganz offensichtlich noch nicht 21 Jahre alt. Außerdem war es gerade mal später Nachmittag. „Tut mir leid, das hier ist ein Café." - „Weißt du, ich kann lesen", erwiderte sie bloß bissig und deutete auf meine Schürze, wo in blauen Buchstaben groß Café Evanston draufstand.

Ich entschied mich dazu, dass es das Beste war, ihren bissigen Kommentar zu ignorieren. Manchmal hatte man einfach einen schlechten Tag, ich wollte ihren ungern noch schlechter machen. „Kann ich Ihnen was anderes bringen?" - „Kannst du meine Schwester wieder zurückbringen?" Geschockt sah ich sie an, während mir langsam bewusst wurde, woher sie mir bekannt vorkam. Ich hatte sie noch nie gesehen, allerdings sah sie ihrer Schwester Victoria zum Verwechseln ähnlich. Ihrer Schwester, die genauso wie meine beste Freundin umgebracht worden war.

„Ich...", setzte ich an, doch mir fiel nichts ein, was ich sagen konnte, damit sie sich besser fühlte. Erwartungsvoll sah sie mich an, vermutlich hoffte sie auf tröstende Worte, die sie aus dem Loch ziehen würden. Allerdings hatten Worte keine solche Wirkung, sie ließen einen nur noch tiefer fallen. Das wusste ich mittlerweile. „Oh Gott, das kann doch nicht wahr sein!" Genervt stöhnte sie auf und schlug mit der Hand auf den Tisch, was mich vollends verwirrte. Hatte ich was verpasst? „Du kanntest sie natürlich auch und bist natürlich total bestürzt. Das ist mit jedem so. Aber ich sag dir was, genauso wie jedem anderen in dieser verfickten Stadt: das was du gerade spürst, ist selbstgemachtes Drama. Sensationsgeil nennt man das. Jeder in dieser Stadt kannte sie plötzlich und trauert stark. Aber das was du fühlst, ist keine Trauer. Trauer ist viel, viel schlimmer und reißt dir einfach so den Boden unter den Füßen weg. Und es fühlt sich verdammt nochmal schrecklicher an, als das, was jeder hier glaubt, zu fühlen!" Die letzten paar Wörter konnte ich nur noch schwer verstehen, da sie angefangen hatte, zu schluchzen.

Völlig überfordert sah ich ihr dabei zu, wie der Schmerz sie in die Knie zwang. Schluchzend ließ sie sich auf den Boden nieder, das Gesicht war tief in ihren Händen vergraben. Unsicher ging ich zu ihr hin und kniete mich neben sie, versuchte, nicht mit ihr zu weinen. Ich hatte die letzten paar Tage genug geweint, ich wollte nicht mehr weinen. In dem Versuch, sie zu beruhigen, legte ich ihr meine Hand auf die Schulter. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Viel besser, als du glaubst. Victoria habe ich leider nie gut gekannt, aber ich bin mir sicher, dass sie ein wunderbarer Mensch war, um den man trauern darf. Um den man trauern sollte." Ich versuchte, auf sie einzureden, doch ihr Schluchzen brach nicht ab. Im Gegenteil, es wurde immer lauter.

Hilfesuchend sah ich Toran an, der vermutlich aufgrund des lauten Schluchzens aus seinem Büro gekommen war. Anstatt zu helfen, wich dieser allerdings meinem Blick rigoros aus und ging rückwärts zurück zu seinem Schreibtisch. Vielen Dank für die Hilfe. „Weißt du", setzte ich wieder an und hob meine Stimme, damit sie mich trotz ihres Schluchzens verstehen konnte, „meine beste Freundin wurde mir genommen. Von einen Tag auf den nächsten, einfach so. Ich habe mehr geweint, als ein Mensch jemals in seinem gesamten Leben weinen sollte. Aber all die Tränen haben sie nicht zurückgebracht. Sei stark für sie."

Sei stark für sie. Diese Worte sagte ich mehr zu mir selbst, als zu dem Mädchen vor mir. Doch sie halfen uns beiden. Ich würde stark sein für Belle und ich würde denjenigen finden, der ihr das angetan hatte. Denjenigen, der Victoria etwas angetan hatte.

Einmal im Leben würde ich stark sein. 

Der Totengräber ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt