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Nach einer kurzen Führung durch das Gebäude, bei der ich kaum zuhörte, erreichen Frau Heel und ich am Ende die Tür zum Speisesaal. Mittlerweile ist es Mittag. Das heißt also auch, dass im Speiseraum in diesem Moment so gut wie alle zu Mittag essen. Frau Heel erzählt mir, dass es ausschließlich Mittagessen am Wochenende gibt, da wir unter der Woche in der Schule essen. Heute ist Sonntag. Dann klärt sie mich über die fest geregelten Essenszeiten auf und dass jeder dazu verpflichtet ist, zu diesen zu erscheinen. Das alles kriege ich nur mit halbem Ohr mit. Ich höre durch die spröde Tür deutlich das leise Summen der Gespräche und das Geklirre von Geschirr. Mir bildet sich Angstschweiß. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen. Hasse es, angestarrt zu werden.
Frau Heel bekommt von meiner Panik nichts mit. Sie öffnet stattdessen ohne Vorwarnung die Tür. Wahrscheinlich ist sie erleichtert, mich endlich loszuwerden.
Sie erkennt, dass ich keine Anstalten mache, durch die Tür zu gehen. Sie tätschelt kurz meine Schulter, dann entschließt sie sich, vor mir in den Speisesaal zu treten. Das übliche Stimmengewirr und das Geschirrklirren, das von einer üblichen Speisemensa einer Schule hätte zeugen können, verebbt augenblicklich nach dem Eintreten der Leiterin des Kinderheims. Dann fängt diese an zu reden.
„Wie ihr bereits wisst, erwarten wir heute eine neue Bewohnerin des Heims. Ihr Name ist Bettina Leusleben und sie-"
„Fettina?! Die?!", ertönt eine laute Mädchenstimme aus dem Hintergrund. Ich kriege kaum Luft. War das eben Klara, die gesprochen hat? Ich bete, dass es nicht so ist, doch vergebens.
„Klara, hier wird nicht reingerufen oder unterbrochen!", ertönt Frau Heels strenge Stimme. Dann fährt sie fort.
„Also, ihr Name ist Bettina Leusleben und sie ist soeben angekommen. Ich verlasse mich darauf, dass ihr sie willkommen heißt und ihr den Einstieg in ihr neues Leben erleichtert." Sie dreht den Kopf zu mir und signalisiert mir, aus meinem Versteck vor der Tür herauszutreten. Ich rühre mich nicht. Ein paar Leute fangen an, zu lachen. Wahrscheinlich muss es dämlich aussehen, wie als ob die Leiterin versucht, ein verschrecktes Kaninchen hineinzuführen. Frau Heel seufzt und entschließt sich kurzerhand, zurück durch die Tür zu gehen, mich an einem Oberarm zu packen und mich dann mit sanfter Gewalt in den Speiseraum zu ziehen. Ich hätte ihrer ausgemergelten Figur locker entgegenhalten können, doch Frau Heel hatte meinen Oberarm genau dort gepackt, wo ich noch blaue Flecken von der letzten Prügelei habe. Es tut ziemlich weh und ich keuche, was die Leiterin ausnutzt, um mich in den Raum zu ziehen. Ich streife mit meinem Körper beide Seiten des Türrahmens, dann stehe ich auch schon mitten im Rampenlicht.
Es ist so schlimm, wie ich erwartet habe. Vielleicht sogar noch schlimmer. Ausnahmslos alle gaffen mich an. Erst herrscht ein paar Augenblicke Stille, die laut auf meine Ohren drückt. Dann höre ich das Klirren herunterfallenden Bestecks. Ein paar Leute kichern unterdrückt. Ich muss einen wirklich ulkigen Anblick zwischen allen Leuten mit Bohnenstangen-Figur bieten, noch dazu mit erst halb verheilten Wunden im Gesicht. Dann treffen meine Augen die von Klara. Sie sieht aus wie immer. Eine Tonne Schminke, mit der sie aussieht wie ein Clown, zwei Tonnen Haarspray, um ihre langen, wasserstoffblonden Haare in ihrer Frisur zu fixieren. Ein Grinsen zieht sich dämonisch über ihr Clownsgesicht. So schnell, dass ich es fast gar nicht mitbekomme, zieht sie ihr Handy über den Tisch und schießt ein Foto von mir. Im nächsten Moment ist ihr Smartphone wieder unter dem Tisch verschwunden.
Mir kommen beinahe Tränen in die Augen. Ich weiß, was Klara vorhat. Es auf allen möglichen sozialen Netzwerken zu teilen, damit sich Leute der ganzen Welt über meine Figur lustig machen können, in schmackhafter Kombination mit meinen Wunden.
Ich höre, wie Frau Heel etwas sagt, doch die Worte wollen nicht in meinem Kopf ankommen. Dann ist es plötzlich wieder still. Offenbar hat Frau Heel die Rede beendet. Alle starren mich wieder an. Ich starre zurück, denn ich habe keine Ahnung,  was ich sonst tun soll.
„Bettina? Geht es dir nicht gut?", sagt Frau Heel schließlich zaghaft. Ich blinzele sie verwirrt an.
„Ist etwas nicht in Ordnung oder warum willst du dich nicht setzen?" Ich kapiere und setzte mich schnell in Bewegung, in der Hoffnung, schnell dem Rampenlicht entfliehen zu können. Doch es bringt nichts. Während ich mich an einen freien Platz an den langen Tisch setze, verfolgen mich sämtliche Augenpaare. Warum muss es nur einen einzigen, langen Tisch für alle Bewohner des Heims geben? Warum gibt es keine kleinen Tische wie in der Schulcafeteria, in dieser ich mich immer unauffällig an einen kleinen Einzeltisch am Rande setzen kann?
Als ich mich auf den hölzernen Stuhl niederlasse, knarrt dieser unheilverkündend. Alle starren mich weiterhin an. Erst jetzt bemerke ich, dass ich ich mich schräg gegenüber von Klara hingesetzt habe. Unsere Blicke treffen sich erneut. Dann unterbricht Klara den Blickkontakt und tippt fieberhaft auf ihr Handy. Ich vermute, ich weiß, was sie macht.
Warum ist Klara hier? Warum teile ich mir ab sofort ein Zuhause mit der größten Zicke meiner Klasse?
Ich hatte gewusst, dass Klara eine Waise ist. Hatte gewusst, dass sie in einem Heim lebt. Doch bin ich nie auf den Gedanken gekommen, dass sie genau in das Heim geht, in das ich nun auch gehe. Das ist mein Tod. Mein endgültiger Tod.
Klara gehört zu den Personen, die mir das Leben in der Schule täglich zur Hölle machen. Häufiger sogar als John, den ich mit seinen Kumpels nur zwischen den Stunden antreffe.
Niemand macht sich die Mühe, sich vorzustellen oder gar ein Gespräch mit mir zu führen. Selbst meine Nachbarn tun so, als ob ich nicht da wäre. Stattdessen sehe ich, wie viele mit vorgehaltener Hand tuscheln. Ich versuche, nicht darauf zu achten und mich auf das Essen zu konzentrieren, meiner größten Leidenschaft. Doch heute gelingt mir das einfach nicht. Liegt es daran, dass ich so geschockt von Klaras Anwesenheit bin, die ich jetzt selbst am Wochenende ertragen muss? Oder daran, dass ich mich in meiner Situation richtig unwohl fühle? Vielleicht liegt das Problem auch einfach am geschmacklosen, faden Rührei. Oder an dem wässerigen Kartoffelbrei. Jedenfalls bin ich erleichtert, als ich sehe, dass Frau Heel, die am Kopfende des Tisches Platz genommen hat, sich erhebt. Offenbar ist das ein Zeichen, denn kurz danach stehen einige Leute ebenfalls auf und folgen Frau Heel zum Ausgang. Ich warte, bis sich nur noch ein paar wenige Leute im Speisesaal befinden, um dann unauffällig aus dem Raum zu eilen und mich schnell auf den Weg zu meinem neuen Zimmer machen. Die Schlafflure befinden sich im ersten Stock. Ich biege in den Flur mit den Mädchenschlafsälen und eile fast bis zum Ende des Gangs, bis ich vor der Zimmernummer 18 Halt mache. Innen höre ich bereits zwei Stimmen, die denjenigen gehören, mit denen ich in Zukunft das Zimmer bewohnen werde. Sie heißen Sarah und Lessie, wie mir Frau Heel erzählt hat, als wir vor meiner Einführung meinen Koffer hochgebracht haben. Jetzt fällt mir vor Erleichterung ein Stein vom Herzen, da ich nicht dazu verdammt bin, mit Klara ein Zimmer zu bewohnen. Meine Erleichterung verfliegt aber rasch, als ich verstehe, über was sich Sarah und Lessie durch die geschlossene Tür gedämpft unterhalten.
„...wenn sie überhaupt durch die Hintertür passt. Aber ich gebe Klara auf jeden Fall recht. Sie sieht aus, als wüsste sie noch nicht einmal, was ein mal eins ist."
„Nun ja, eins ist jedenfalls klar: Es wird der Horror, mit ihr in einem Zimmer zu sein. Hast du ihre blauen Flecken gesehen? Sie sieht aus, als wäre sie eine von denen, die sich gerne nachts mit irgendwelchen Gestalten prügeln. Doch damit kommt sie hier nicht weit. Wenn sie erst einmal die Strafen hier ausgekostet hat, wird sie sich ganz schnell an die Regeln halten."
Die beiden lachen grausam, während ich mich auf den Weg zu den Toiletten mache.

Bann des Tagebuchs (Pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt