Den ganzen Weg zurück ins Heim verbringe ich wie im Traum. Ich achte noch nicht einmal auf die üblichen gehässigen Blicke und Kommentare, die mir zugeworfen werden. Erst als ich wieder vor meiner Zimmertür stehe, halte ich inne und presse mein Ohr gegen die splitterige Tür. Kein Geräusch, doch zur Sicherheit hocke ich mich hin und werfe einen Blick durch den übergroßen Spalt zwischen Tür und Boden. Auch, wenn ich kein Paar Füße erkennen kann, klopft mein Herz doch ein wenig schneller, als ich die Tür öffne. Niemand drinnen. Ich bin erleichtert und durchquere das winzige Zimmer in zwei Schritten, um zu meinem Bett zu gelangen. Es ist ein recht niedriges Hochbett. Ich hatte vor der kurzen Führung von Frau Heel die freie Wahl zwischen oben und unten; natürlich habe ich mich für unten entschieden. Ich lasse mich erschöpft auf das Bett fallen und mein Hinterkopf knallt mit voller Wucht gegen die spitze Kante des oben liegenden Bettes. Ich schreie auf und halte mir die erneut blutende Beule, die noch von der Prügelei vor ein paar Tagen stammt. Ich taste halb blind vor Schmerz in meinem Rucksack nach einem Taschentuch, finde aber nur eine etwas beschmutzte Servierte, die vermutlich noch vom letzten Burger King Besuch stammt. Ich drücke sie mir gegen die Wunde und versuche, den Schmerz auszublenden. Da ich schon Übung darin habe, gelingt es mir recht gut und so kann ich mich nach kurzer Zeit wieder auf die wichtigeren Sachen konzentrieren.
Helena. Wie konnte ich sie einfach so vergessen? Meine einzige richtige Freundin, die ich je hatte. Habe ich in all den Jahren überhaupt einen einzigen Gedanken an sie verschwendet? Plötzlich fühle ich mich schlecht und ich bin mir sicher, dass das nichts mit meinem schmerzenden Hinterkopf zu tun hat.
Ich weiß nicht einmal, wann ich sie zuletzt- abgesehen von heute- gesehen habe. In der zweiten, dritten Klasse? Oder doch schon in der vierten? Mein Gedächtnis fühlt sich plötzlich wie ein nasser Schwamm an. Ich versuche, mir einzureden, das der zweite Schlag auf meinen Hinterkopf innerhalb weniger Tage daran Schuld ist. Doch ich bekomme es nicht hin. Ich werde nur noch verwirrter. Es fließen immer mehr durcheinandergewürfelte, zusammenhanglose Erinnerungen in mein Gehirn. Wie wir lachend auf einem Spielplatz schaukeln. Wir gemeinsam ein Eis im Zoo lutschen. Doch trotzdem fühlt es sich an, als hätte ich eine große, klaffende Gedächtnislücke, die ich nicht überspringen kann. Was ist mit Helena geschehen? Warum erinnere ich mich erst nach unzähligen Jahren wieder an sie?
Doch was fast noch wichtiger ist: Wieso treffe ich sie dann so plötzlich wie zufällig vor einem Fast-Food Restaurant wieder? Und warum lief sie verschreckt davon, als sie mich erkannte?
Diese Frage schmerzt mich mehr als die pochende, blutende Beule. Ich bin mir sicher, dass sie mich erkannt hat. Ich habe das blitzartige Erkennen in ihren Augen deutlich gesehen.
Kann es sein, dass sie, als sie meine Figur registriert hat, nichts mehr mit mir zu tun haben wollte? Dass meine einzige Freundin sich jetzt, wo sie mich nach all den Jahren das erste Mal gesehen hat, vor mir ekelt, genauso wie der Rest der Welt?
Ich weigere mich, das zu glauben. Ich kann es einfach nicht. Also versuche ich mir erneut erfolglos einzureden, ich hätte jemand anderen mit Helena verwechselt. Und dass das Mädchen einfach plötzlich in Eile war.
Ich kann mir nichts vormachen. Auch wenn ich Helena das letzte Mal irgendwann im Kindesalter in der Grundschule gesehen habe, habe ich sie sofort erkannt. Wie sie mich. Als wären die Jahre nie gewesen, in denen wir uns zu Teenagern entwickelt hatten.
Ich versuche gerade , irgendeine erklärende und zufriedenstellende Antwort auf wenigstens eine meiner Fragen zu finden, als die beiden reinkommen. Nein, nicht die beiden. Die drei.
Meine beiden Zimmergenossinnen und Klara bemerken mich erst, nachdem sie schon die Tür hinter sich geschlossen haben und sich zum zweiten Hochbett an der gegenüberliegenden Wand wenden, wo Sarah und Lessie den auf den Decken verstreuten Designerklamotten nach zu schließen schlafen.
„Na sieh mal einer an“, sagt Klara, die sich am schnellsten der drei von der Überraschung erholt hat und nun auf mein Bett, auf dem ich immer noch sitze, zugeht.
„So so, Fettina. Lange nicht gesehen, würde ich sagen. Ich schätze aber mal, das wird sich ab heute ändern. Jetzt, wo du auch hier bist und die Ehre hast, mit meinen Freundinnen in einem Zimmer zu wohnen.“ Den letzten Satz sagt sie leise und hinterhältig. Ich weiß, dass es keine Ehre ist. Es ist das genaue Gegenteil. Sarah und Lessie untermahlen ihre Worte, indem sie sich nun auch vor mich stellen, links und rechts von Klara. Kurz schießt ein ähnliches Bild durch meinen Kopf, doch diesmal mit John in der Mitte, Robert und Luis an seiner Seite.
„Na, schon wieder verprügelt?“Klara hat die inzwischen ziemlich blutgetränkte Servierte entdeckt, die ich mit einer Hand immer noch an meinen Hinterkopf drücke.
„Lass mich raten, John?“ Ich erwidere nichts. Schlagfertige Antworten hatte ich noch nie parat.
Die drei Mädchen lachen, werden doch sogleich von dem Summen Klaras Smartphones unterbrochen.
Sie zieht es flugs aus ihrer Hosentasche und wirft einen Blick darauf. Was es auch ist, es löst in Klara ein Gefühl der Glückseligkeit aus, als sie einen Moment später die Augen weit aufreißt, ihre Freundinnen mit den Ellenbogen anstößt und ihnen das Display hinhält. Kurze Zeit später zieht sich ein bösartiges Lächeln über deren Gesichter. Ich erscheine zunächst ganz vergessen, bis die drei schon aufgeregt aus dem Zimmer geeilt sind und nur noch Klaras Kopf im Türrahmen zu sehen ist.
„Du bist sowas von erledigt, Fettina“, flüstert sie gerade so laut, dass ich es verstehen kann. Dann lässt sie die Tür ins Schloss fallen.
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Bann des Tagebuchs (Pausiert)
ParanormalBettina ist an ihrer Schule ein Mobbingopfer. Ihre schlechten Verhältnisse zuhause machen ihr das Leben noch einmal doppelt so schwer. Dann erhält sie an ihrem 16. Geburtstag ein Notizbuch. Sie denkt sich nichts dabei, bis sie die übernatürliche Kra...