12.

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Ich habe gerade das Schultor erreicht, Alfa ich eine Stimme vernehme. Ich erstarre zu einer Salzsäule, bevor ich mich langsam, wie ein ertappter Verbrecher auf der Flucht, umdrehe. Herr Hasse, mein Sportlehrer, kommt auf mich zu. Mein Magen dreht sich um und ich vergesse für einen kurzen Moment lang meine anderen, viel wichtigeren Sorgen.
„Na, willst du mal wieder abhauen?“ Er macht sich noch nicht einmal die Mühe, sein gelbzähniges Grinsen zu  verbergen. „Sorry, aber da muss ich dich enttäuschen. Jetzt wird erstmal Sport gemacht; meinetwegen kannst du danach verschwinden, aber in meinem Unterricht fehlst du nicht!“ Er bedeutet mir mit einer Hand, ihm zu folgen. Während er mich bis zur Sporthalle hinter dem Schulgebäude begleitet, um vermutlich sicherzustellen, dass ich nicht wieder einen Abhauversuch starte, weht der Wind ungünstig, sodass seine übliche Schweißfahne die ganze Zeit ihren weg in mein Gesicht findet. Doch als wir im windgeschützten Gebäude anzukommen sind und wir vor der Mädchenumkleide stehen, ist mir nicht minder schlecht. Herr Hasse zeigt mir erneut seine gelben Zähne und deutet einladend, als würde er mich in einen Palast bitten, zur Tür, hinter der eifriges Getuschel und Gekicher zu vernehmen ist. Ich weiß, ich habe keine Wahl, obwohl ich am liebsten im Erdboden verschwinden will, und mache langsam die Tür unter Herr Hasses wachsamen Augen ein Stück weit auf. Dabei fühle ich mich schrecklich an den Speisesaal des Kinderheims und an meine erste Vorstellung vor den anderen Bewohnern in diesem Raum erinnert.
Ich habe die Tür zur Umkleide vielleicht ein paar Zentimeter geöffnet und sehe nun wieder verzweifelt meinen Sportlehrer an, als wolle ich ihm so irgendwie zu erkennen geben, in welcher miesen Lage ich mich gerade befinde. Doch ich hätte es besser wissen müssen, denn kaum erkennt Herr Hasse mein Zögern, stößt er kurzerhand die Tür auf und schiebt mich, wie vor ein paar Tagen meine Heimleiterin in den Speiseraum, in die Umkleide. Die lebhafte Stimmung im Innern erstirbt sofort. Wie schon so oft starren mich alle Mädchen an. Ich beeile mich, so schnell wie möglich in die hinterste Ecke des Umkleideraums zu verschwinden, welche mein Srammplatz ist, während die Tür hinter mir zuknallt und nur noch eine gedämpfte Stimme Herr Hasses durch diese dringt: „Ich hoffe, du hast deine Turnkür gut vorbereitet, Fet- äh, ich meine Bettina!“

Wie immer beginnt die Sportstunde
mit einem Aufwärmspiel. Dieses Mal setzt es mir aber weniger als sonst zu, als letzte in ein Team gewählt zu werden, da meine Gedanken sich wieder mit dem Zeitungsartikel, den Klara vorgelesen hat, beschäftigen und alles andere aus meinem Kopf vertreiben. Ebenso wenig interessiert es mich, dass Herr Hasse mich noch ein paar weitere Male ganz ausversehen Fettina nennt. Erst, als unser Sportlehrer nach zwei weiteren Aufwärmspielen verkündet, dass es jetzt an die Bodenturnen-Kür geht, lenkt sich meine Aufmerksamkeit zum ersten Mal voll auf die Sportstunde. Als dann auch noch bekannt wird, dass wir unsere Küren vor der gesamten Klasse vorturnen müssen, gesellen sich zu meinem pochenden Herz auch schwitzige Hände.
Ich habe nicht geübt. Noch weniger habe ich mir eine Kür überlegt. Ich weiß nur, welche Elemente Pflicht sind.
Als ich schließlich aufgerufen werde und nach vorne trete, als gehe es zum Strick, kann ich schwören, aus dem Augenwinkel ein paar Schüler zu sehen, die ihre Köpfe zusammenstecken.
Jetzt stehe ich vor den Turnmatten und mache keine Anstalten, anzufangen. Viele meiner Mitschüler auf den Bänken an der Seite lachen bereits, darunter auch Klara, welche mit ihrem lauten und nasalen Gelächter deutlich heraussticht. Herr Hasse, welcher selbst ein Grinsen nicht verkneifen kann, macht ebenfalls keine Anstalten, die Klasse zurechtzuweisen. Stattdessen sagt er: „Na, worauf wartest du? Auf jemanden, der dir beim Handstand hilft?“ Das sorgt für noch weiteres Gelächter unter den Schülern, während meine Augen anfangen zu brennen.
Natürlich habe ich keinen der mich beim Handstand stützt. Ich habe noch nicht einmal versucht, jemanden zu fragen, da es doch sinnlos ist. Wer würde schon freiwillig Fettinas fette Beine anfassen, um sich dadurch schmutzig zu machen?
Wie vorhergesehen ist meine Kür mehr als entsetzlich. Ich arbeite einfach nacheinander alle wichtigen Elemente ab, eines schlechter als das nächste. Beim Handstand kriege ich meine Beine höchstens einen halben Meter hoch, ehe ich es aufgebe und es bei diesem Versuch belasse.
Danach bin ich fertig und kriege gerade noch so am Rande das während meiner ganzen Kür zu hörende Gelächter mit, während ich keuchend zurück zur Bank taumele und mich auf dieser ganz am Rand mit zwei Metern Abstand zu meinem nächsten Sitznachbarn niederlasse. Ich habe den Notitzzettel von Herr Hasse nicht gesehen, jedoch bin ich mir fast sicher, welche Note dort unter meinem Namen steht.

Nach der miserablen Stunde habe ich erneut vor, die Schule frühzeitig zu verlassen, was jedoch schon wieder scheitert, als ich neben dem Schultor Herr Kelrub erblicke, der, als dieser auch mich erkennt, mir einen mahnenden Blick zuwirft. Gerade noch rechtzeitig lenke ich meine Schritte um, sodass es aussieht, als hätte ich nur einen kleinen Schlenker über den Schulhof unternommen, jedoch bin ich mir sicher, dass Herr Kelrub mich trotzdem durchschaut hat. Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken, während ich gezwungenermaßen die Stufen zum Schulgebäude hochlaufe, welches ich heute eigentlich nicht mehr betreten wollte.
Ich weiß, warum plötzlich ein Lehrer den Ausgang zur Schule bewacht. Und ich weiß ebenfalls, dass ich in Zukunft große Probleme haben werde, mich hier rauszuschmuggeln.
Die Schule wirkt auf mich immer mehr wie ein Gefängnis.

Bann des Tagebuchs (Pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt