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Während ich im Untersuchungssaal auf Freya wartete, starrte ich unverwandt die weiße Wand an. Sie war nun schon länger weg und ich wusste nicht recht, wie ich mich fühlen sollte. Das Einzige, was ich wusste, war, dass sie das Experiment auf ein neues Level erhöhen wollte. Was genau sie vorhatte, wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Dieses sogenannte Experiment führte sie mittlerweile bereits sechs lange Jahre an mir durch. Ich wusste nicht, was ihr Ziel war mit dieser Art von Tabletten, doch bei ihr konnte es auf jeden Fall nichts Gutes bedeuten. Die Tabletten, von denen ich drei Mal täglich welche einnehmen musste, hinderten den Wachstum und die physische Entwicklung meines Körper. Für Außenstehende war ich ein 16 Jahre altes Mädchen, doch eigentlich wäre ich schon 22 gewesen. Ich hatte schon mehrmals versucht, Freya auszufragen, was sie damit bezwecken wollte. Doch sie blieb immer stur und sagte mir kein Wort. Bis heute wusste ich also nicht, was sie mit mir vorhatte.

"Fanny!" Der Klang einer Kinderstimme riss mich aus meiner Gedankenwelt. Ich schaute zur Tür, an der eine kleine Person stand. Es war niemand anderes, als die winzige Tamy. Ihre übergroßen engelsblauen Augen strahlten mich glückselig an. Schon fast so, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Ich konnte mir das Lächeln bei ihrem Anblick nicht verkneifen. Zu dieser Zeit gab es kaum etwas, das mich glücklicher machen konnte, als dieses kleine Mädchen. Sie war das hoffnungsvolle Licht in meiner dauerhaften Dunkelheit. Ich sprang vom Tisch, worauf sie mir sprunghaft in die Arme rannte. "Alles gut bei dir?" wollte ich von ihr wissen. Ich wusste, dass Freya sie vor einer Woche wieder hatte aufschneiden lassen. Die rötliche Narbe zog sich bis zu ihrem Hals hoch. "Ja, ich darf wieder aus dem Zimmer." erzählte sie mir stolz. Meine Augen wurden wässrig. Wie konnte man nur so unbeschwert sein wie sie, obwohl wir doch eigentlich am schrecklichsten Ort der Welt festsaßen?
Um es genauer auszudrücken, wir waren Bestandteile des Experiment-Laboratory-For-Humans oder auch kurz genannt ELFH. Wie der Name schon sagte, waren wir nichts weiter als Experimente, die zur Weiterentwicklung und zum Wissen der Menscheit beitragen sollten. Besonders wir, die aus dem Paranormal-Department. Auf uns lastete viel Druck. Wir durften niemanden enttäuschen, indem wir an unseren Medikamenten, Operationen oder Experimenten starben.
Tamy zum Beispiel war nicht nur für mich, sondern auch für alle Doktoren des ELFH ein funkelnder Stern. Noch im Säuglingsalter entnahmen sie ihr das Herz und ersetzten es durch eine mechanische Kopie. Dabei war ihr ursprüngliches Herz völlig in Ordnung. "Für die Wissenschaft." pflegte Freya immer zu sagen.
Da sie bis zu heutigem Tage immer noch atmete und kaum irgendwelche Probleme zeigte, wurde sie als gelungener Erfolg gefeiert. Wie krank waren die Menschen nur, so etwas zu lobpreisen? Ich konnte es und werde es mir wohl niemals erklären können.

Tamy saß auf meinem Schoß und erzählte mir voller Freude von dem Bild, welches sie für Freya gemalt hatte, als diese die Tür herein kam. Ein Mann im schwarzen Anzug folgte ihr. Ich kannte ihn nicht. "Meine beiden Lieblinge." flötete sie und kam auf uns zu. In mir verkrampfte sich jeder einzelne Muskel, ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten. Tamy ging es nicht anders. Zwar redete sie gern von Freya, als wäre sie ihre leibliche Mutter, doch ich wusste, dass sie in einer Fantasiewelt lebte. In ihrer Vorstellung war Freya unsere Heldin, die uns eines Tages hier raus bringen würde, doch so war es leider nicht. Ich hatte jedoch nie den Mut dazu gehabt, es Tamy zu sagen. Die Angst, dass ich sie damit kaputt reißen würde, war zu groß. Das Risiko, dass das mechanische Herz nicht mehr von ihrem Körper angenommen werden würde, war zu hoch. "Sieh mal." Tamy streckte ihr die bunte Zeichnung hin. Die hellblonde Frau verzog nicht einmal ihren Mundwinkel. "Was ist das?" fragte sie. Hatte sie denn noch nie eine Kinderzeichnung gesehen? "Das sind wir." Das kleine Mädchen, mit den dunkelbraunen und kurzen Haaren, zeigte auf das Blatt Papier. In der Mitte stand Freya. Sie hielt Tamy und mich an den Händen. Wir alle lächelten. Wie sollte ich ihr klar machen, dass dieser Moment niemals kommen würde? "Oh, okay." Freya nahm die Zeichnung entgegen und legte sie auf ihrem Schreibtisch ab. Nicht einmal einen kurzen Blick hatte sie darauf geworfen. Ich konnte die tiefe Enttäuschung spüren, die sich nun in Tamy ausbreitete. Daher legte ich meinen Arm um sie und zog sie zu mir.
Freya wandte sich dem mir unbekannten Mann zu. "Nr. 12 werde ich mitnehmen nach New York. Sie wird sich um die problematische Angelegenheit mit eurer Verräterin befassen." Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Was genau sollte ich tun? "Nr. 35 werde ich auch mitnehmen, damit ich sie im Auge behalten kann, falls etwas schief läuft. Denkst du, das geht in Ordnung?" Auf Freyas Frage antwortete der Mann mit einem kurzen Blick zu uns und einem Nicken. Tamy drückte sich fest an mich.
Nachdem der Mann aus der Tür verschwunden war, lächelte uns Freya an. "Freut euch, wir fliegen nach New York." Doch wir freuten uns kein bisschen. Das letzte Mal, als ich außerhalb dieses riesigen Gebäudes war, lag mehr als sechs Jahre zurück und Tamy kannte die Außenwelt nicht einmal. Sie zitterte bereits bei der Vorstellung.

Wir bekamen ordentliche Klamotten, die den Anschein erweckten, dass wir zwei ganz normale Mädchen wären. Bevor wir in den Jet stiegen, rannte Tamy noch ein letztes Mal zurück und holte ihre alte, verranzte Stoffpuppe. Dann flogen wir los. Abgesehen von Tamys Puppe besaßen wir keine Eigentümer, die wir mitnehmen konnten. Daher ging alles sehr schnell.
Im Jet traute ich mich immer noch nicht Freya zu fragen, was ich in New York erledigen musste. Mit Nr.12 meinte sie nämlich mich. Alle Menschen, die als Experiment dienten, hatten eine Nummer.
Ich bekam eine schreckliche Vorahnung, als ich sie betrachtete. Sie starrte aus dem Fenster mit leeren und seelenlosen Augen. Dieser Blick verriet mir, dass sie den Auftrag erteilt bekam, jemandem das Licht auszuknipsen.

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