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"Du nutzlose Göre! Kannst du dir nicht einmal Mühe geben?!" Mit einer heftigen Ohrfeige schleuderte sie mich an die Wand. Ich schluchzte schmerzerfüllt auf und hielt mir den Kopf, der vom Aufschlag stark brummte. Mir wurde schwindelig, doch ich stand trotzdem wieder auf. Das war schließlich nicht das erste Mal, dass Freya betrunken war und ihren Anfall von Aggressionen an mir ausließ. Tamy hatte sich, samt ihrer Stoffpuppe, in die hinterste Ecke des Zimmers gedrückt. Ich hörte sie leise weinen. "Ich brauche Zeit. Das ist nicht so einfach, wie du denkst." argumentierte ich gegen sie, obwohl ich wusste, dass es nichts bringen würde. Wenn sie getrunken hatte, war sie nicht nur unausstehlich und impulsiv, sondern auch noch sturer als vorher. "Erzähl mir keine faulen Ausreden!" keifte sie, packte mich an den Haaren und zog mich an sie heran. Der Geruch von Vodka und Bourbon stieg mir in die Nase. Ich versuchte mich von ihr weg zu drücken, doch Freya war stärker. "Hör zu, ich gebe dir eine Woche. Du gewinnst ihr Vertrauen und findest ihre Adresse heraus. Haben wir uns da verstanden?" Ich nickte, damit sie endlich meine Haare los ließ. Mit einen Schubser fiel ich auf den Boden und durch meinen verschwommenen Blick sah ich, wie Freya aus der Tür torkelte und diese gewaltsam zuknallte. Erleichtert atmete ich aus, wartete einen kurzen Moment, bis der Schwindel wich und rappelte mich dann auf, um ins Bad zu gehen.
Mein blasses Gesicht war wegen der Tränen leicht aufgequollen. Ich nahm mir einen Waschlappen, tränkte ihn in kaltes Wasser und strich mir damit übers Gesicht. An meinem Hinterkopf deutete sich eine Beule an und mein rechtes Augenlid hatte ein wenig die Farbe von Flieder angenommen. "Am besten ich schminke mich morgen ein bisschen, damit man es nicht sieht ..." murmelte ich meinem Spiegelbild zu.
Tamy stolperte, immer noch weinend, zu mir und klammerte sich an meine Beine. "Geht's?" fragte ich sie und hob sie hoch. Sie strich sich tapfer die Tränen von den geröteten Wangen und nickte. Ich war heilfroh, dass Freya ihr nichts angetan hatte. Dennoch konnte sie nicht wirklich aufhören zu Weinen. "Erzähl mir doch, wie es in der Schule war." sagte ich, um sie abzulenken und trug sie zum Bett. "Es war nicht so toll. Ich habe mich gar nicht getraut zu reden. Die denken sicher alle, ich kann das sogar gar nicht." schniefte sie, während ich sie ins Bett legte und ihr die Decke überzog. "Mein Klassenlehrer ist aber nett. Er hat mich nach meinen Narben gefragt, aber ich habe nicht genug Mut gehabt, um etwas zu sagen. Sonst wäre Freya heute bestimmt auch sauer auf mich geworden. Ich will das nicht."
Seufzend legte ich mich neben sie. "Ich will das auch nicht."

Ich setzte mich in die hinterste Reihe und achtete darauf, dass sich niemand neben mich setzte. An diese ganzen pubertierenden Leute konnte ich mich einfach nicht gewöhnen. Sie machten mich nervös und bereiteten mir Unbehagen. Hier gehörte ich nicht hin. Auch nicht zu Freya. Es war alles schrecklich. "Guten Morgen." flötete eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und erblickte Christina. Sie schenkte mir ein Lächeln und ging dann vor zum Lehrerpult. Stimmt ja, sie war meine Englischlehrerin. Nur wie sollte man die Adresse einer Englischlehrerin herausfinden? Ich überlegte, ob ich Freyas Wunsch wirklich erfüllen sollte. Ich wusste, dass sie Böses vorhatte doch für mich schien Christina eine nette und ganz normale Frau zu sein. Was wollte sie also von ihr?
"Wir fangen heute mit einer Lektüre an. Ihr kennt doch sicher alle Frankenstein. Ich dachte, es würde euch bestimmt allen gefallen." Ihre Stimme war zwar rau wie die von Freya, doch ihre war liebevoll und freundlich. Untypisch für eine Lehrerin, oder nicht? Die Klasse stimmte ihr zu. Auch ich. Natürlich kannte ich Frankenstein und da ich ein totaler Bücherwurm war, hatte ich es auch schon gelesen.
Christina teilte die Bücher aus und ließ uns die ersten paar Kapitel vorlesen. Es war eine verkürzte Version des Buches, die sehr einfach zu lesen war doch ich konnte mich nicht wirklich konzentrieren, denn wenn ich zu Christina nach vorne schaute und sah wie sie seelenruhig mitlas, kam der Gedanken an Freya hoch. Wollte sie Christina etwas antun? Und wenn ja, wieso? Es war schrecklich, nichts zu wissen. "Bonnie, liest du bitte weiter?" forderte sie mich auf und entzog mich damit meiner Gedankenwelt. Vor der ganzen Klasse? Ich schluckte. "Siebzehn Jahre lang führte ich ein glückliches Leben. Dann geschah zum ersten Mal etwas Trauriges. Meine Mutter wurde schwer krank und wusste bald, dass sie sterben würde." Meine Stimme fing an zu zittern. Nicht weil ich Angst vor der Klasse hatte. Nein. Es waren die Worte, die sich in meine Brust bohrten und mich an schreckliche Tage zurückdenken ließen. Trotzdem las ich weiter. "Kurz bevor sie starb, bat sie Elizabeth und mich in ihr Zimmer zu kommen. Sie hielt unsere Hände und sagte: 'Meine Kinder, ich bin überglücklich, dass ihr euch liebt und dass ihr eines Tages heiraten werdet. Jeder in der Familie liebt dich, Elizabeth. Würdest du meinen Platz in der Familie übernehmen, meine Liebe? Ich kann in Ruhe sterben, wenn ich weiß, dass du auf sie achten wirst, sobald ich nicht mehr bin." Ich atmete tief aus und ein Junge, der zwei Plätze weiter saß, las weiter vor. Als ich das Buch zum ersten Mal gelesen hatte, schmerzten mir diese Worte noch nicht.

Nach der Englischstunde packte ich meine Sachen zusammen und überlegte, wann der nächste Bus fuhr. Freya würde mich sicherlich nicht abholen, das wusste ich. Eigentlich wollte ich nicht einmal zurück, doch ich konnte auch nicht länger fort bleiben, denn auch Tamy würde bald von der Schule kommen und ich musste auf sie aufpassen.
"Gefällt dir der Unterricht?" Christina gesellte sich zu mir und setzte sich auf einen der Tische. Die Klasse war schon draußen. Kein Wunder, wir hatten Schulschluss. "Ehm, ja. Ich mag Englisch generell." antwortete ich ein wenig schüchtern. Wie sollte ich dieser Frau gegenüber treten, wenn ich wusste, dass Freya etwas mit ihr vorhatte? Sie schmunzelte. "Das freut mich. Da du neu bist, möchte ich natürlich, dass du dich hier wohlfühlst." erzählte sie mir. Ich spüre einerseits eine angenehme Wärme im Bauch, weil sie so unglaublich freundlich zu mir war, doch andererseits konnte ich ihr nicht einmal richtig in die Augen sehen, ohne Schuldgefühle zu bekommen. "Danke für Ihre Zuvorkommenheit. Ich weiß das zu schätzen, nur leider muss ich jetzt gehen. Mein Bus kommt gleich." sagte ich zaghaft und schulterte meinen Rucksack. "Ist doch eine Selbstverständlichkeit. Also dann bis morgen, Bonnie."
"Tschüss, Miss Ashton."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 05, 2017 ⏰

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