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Als wir nach etwa zwei Stunden Flug endlich über New York waren, schaute Tamy mit großen Augen aus dem kleinen Fenster aus Plexiglas. "Sieh mal, Fanny. Ganz viele hohe Häuser!" sagte sie aufgedreht und drückte sich die kleine Stupsnase an der Scheibe platt. Ich schmunzelte.
Wir landeten auf einem kleinen Flugplatz zwischen den Hochhäusern und Freya scheuchte uns sofort in eines mit der Aufschrift Baker Hotel. Die vielen Menschen auf der Straße bereiteten mir Unbehagen, weshalb ich Tamy fest an die Hand nahm und mich nah an Freya hielt. Den unbekannten Mann im Anzug ließen wir beim Jet zurück. Ich fragte mich immer noch, wer er war und woher er Freya kannte.

Es war ein sehr luxuriöses Hotel. Naja, zumindest sah es für mich so aus, denn zuvor war ich noch nie in einem. Der dunkelhäutige Mann an der Rezeption erkannte Freya auf den ersten Blick hin und holte zwei silberne Schlüssel heraus. Freya schaute sich kurz um, ob jemand der anderen Hotelgäste in der Nähe war, doch die Eingangshalle war leer. Dann grinste sie den Mann an. Es war nie zu übersehen, wenn sie mit Männern flirtete. Und jeder von ihnen fiel auf sie rein. Freya ließ gerne ihren Charme spielen. Es steigerte anscheinend ihr Selbstbewusstsein, wenn Männer ihr dann auf der Stelle verfallen waren. Sie nahm die Schlüssel entgegen und steckte ihn in ihre schwarze Lederjacke. "Ich hoffe doch, der Boss hat uns die besten Zimmer zugeteilt." schnurrte sie und zwinkerte dem Mann zu. Er errötete und sah ein wenig verlegen zur Seite. "Aber natürlich. Du bist schließlich sein Liebling."
Von Freyas Boss hatte ich schon öfters gehört, doch jedes Mal, wenn ich nach ihm fragte, antwortete mir niemand. Die Doktoren aus dem ELFH machten aus so gut wie allem eine Staatsaffäre. Ob es sein Befehl war, dass wir hierher kamen?

Tamy und ich teilten uns ein Zimmer mit einem riesigen Doppelbett, eigenem Bad, mit Dusche und Badewanne, und einem kleinen Wohnzimmer. Freyas Zimmer sah identisch zu unserem aus. Sie war natürlich direkt neben an, damit sie uns bloß nicht aus den Augen verlor.
Ich hätte mich glücklich schätzen sollen. Noch vor ein paar Stunden hatte ich auf einer kaputten Matratze geschlafen und jetzt hatten Tamy und ich ein Zimmer, was für eine Prinzessin hätte sein können. Dennoch fühlte ich mich schrecklich unwohl. Ich hatte das Gefühl, dass nun viel auf uns zukommen würde und damit meinte ich nichts Gutes. Mit einem tiefen Seufzer ließ ich mich in einen dunkelblauen Samtsessel fallen, der im Wohnzimmer stand. Tamy hingegen fand es unglaublich toll hier. Sie rannte ständig von Zimmer zu Zimmer und rief dabei "Das ist das Paradies!". Ich versuchte mich auf ihr fröhliches Lachen zu konzentrieren, damit das mulmige Gefühl endlich verschwand.

Nach einer Weile kam Freya mit zwei durchsichtigen Kleiderbeuteln in unser Zimmer. Es waren Uniformen oder genauer gesagt Schuluniformen. "Für uns?" fragte ich unsicher. Freya drückte mir einen der Kleiderbeutel in die Hand. "Natürlich für euch. Glaubst du etwa, dass ich in die Schule gehe?" meinte sie mit ironisch und zickigem Ton. Ich verdrehte heimlich die Augen. Dann fiel mein Blick auf die Uniform. Sie bestand aus einem grauen Faltenrock, einer weißen Oxfordbluse, einer weißen Seidenstrumpfhose und schwarzen Lackschuhen. Auf der Bluse war das Enblem der Schule abgebildet. Manhattan Village Academy. "Eine sehr anspruchsvolle Schule, also benimm dich." meinte Freya und warf mir einen strengen Blick zu, bevor sie sich Tamy zuwandte. Ihre Uniform sah meiner sehr ähnlich, nur das Schulenblem war ein anderes. Geneva School. Ich verstand nicht, wieso sie uns auf einmal in die Schule schickte. Für Experimente des ELFH gab es Unterricht beim zugeteilten Doktor. Da ich schon fertig mit dem Stoff für 6-18 Jährige war, hatte ich schon lange keinen Unterricht mehr. Tamy war gerade mal fünf Jahre alt. Mir wurde schlecht, wenn ich daran dachte, dass sie sich zwischen all diese Menschen mischen musste. Sie war so klein und meine Angst deshalb um sie umso größer. "Was ist denn eine Schule?" wollte sie wissen. Ihr Anblick voller Unschuld tat mir weh. "Dort lernt man so Sachen wie lesen, schreiben und rechnen." erklärte Freya ihr und kramte in ihrer Handtasche. "Oh, super! Lesen kann ich nämlich. Fanny hat es mir beigebracht." Ihre großen blauen Augen leuchteten vor Stolz. Das stimmte, aber niemand hatte ihr beigebracht mit anderen Kindern zu interagieren.
Während Tamy ihre Uniform schon einmal anprobierte, reichte mir Freya einen Schulausweis mit einer gefälschten Identität. Bonnie Baker. Ich sah verwirrt zu Freya auf. "Wir bekommen neue Namen?"
"Aber selbstverständlich. Es darf niemand vom ELFH erfahren, verstanden?" Dabei drückte sie mir warnend die Schulter. "Prägt sie euch gut ein. Ich fahre euch dann morgen früh hin. Um halb sieben seid ihr brav unten beim Frühstück." Ihre kalten Augen schauten erst mich, dann Tamy an. Wir nickten zeitgleich und sahen Freya nach, als sie zur Tür ging. "Ach ja, Fanny. Komm heute Abend nochmal zu mir. Wir müssen noch etwas besprechen." Dann schlug sie die Tür hinter sich zu und ließ uns zurück. Tamy stellte sich auf die Zehenspitzen, um auf ihre Karte zu schauen. Ich kniete mich zu ihr herunter, damit sie ihre neue Identität sah. Hope Baker hieß ihr neuer Name. Wenigstens ein Passender. "Hope wie die Hoffnung?" Sie schien sich über ihren neuen Namen zu freuen. "Ja." antwortete ich lächelnd. Hat Freya extra diesen Namen für sie ausgesucht?

Den Rest des Tages habe ich auf dem Sessel verbracht, um zu lesen. Tamy konnte keine Minute still sitzen. Ständig sang sie vor sich hin. "Bonnie und Hope, das sind wir. Bonnie und Hope lalala." Mittlerweile ging es mir auf die Nerven, also schickte ich sie ins Bett.
Behutsam deckte ich sie zu und gab ihr die geliebte Stoffpuppe zum Einschlafen. "Sind da auch andere Kinder in der Schule?" Sie war müde, aber noch nicht zu müde, um mich mit Fragen zu durchlöchern. "Ja. Sehr viele sogar."
"Glaubst du, ich kann da Freunde finden? Ich wollte schon immer einmal Freunde haben. Nicht solche wie Finley. Keine Roboter. Ich will echte Freunde haben." Mir wäre es persönlich lieber gewesen, wenn sie hier geblieben wäre, doch sie schien sich wirklich nach Altersgenossen zu sehnen. Ich war eine Einzelgängerin, deshalb störte mich sowas nie. "Bestimmt. Mit so einem wundervollen Mädchen möchte doch jeder befreundet sein." Lächelnd strich ich ihr das braune und kurze Haar aus dem Gesicht. Ein breites Grinsen zierte ihre geschwungenen Lippen. "Aber niemand kann dich ersetzen, Fanny. Gibst du mir noch einen Gute Nacht Kuss?" Gerührt von ihrer Aussage hielt ich die Tränen zurück. Der Drang, sie zu beschützen, wurde immer stärker."Du bleibst auch für mich immer etwas ganz Besonderes. Schlaf gut." Ich küsste sie auf die Stirn, stand vom Bett auf und schaltete das Nachtlicht ein, damit sie besser einschlafen konnte. Mit leisen Schritten ging ich aus dem Zimmer und machte mich auf den Weg zu Freya.

Ich saß gegenüber von ihrem großen Schreibtisch. Sie saß dahinter und tippte auf der Tastatur des Computers. Ich hielt diese erdrückende Stille nicht lange aus. "Sagst du mir jetzt endlich, was du vorhast?" Meine Stimme klang leicht gereizt. Aber schließlich hatte uns Freya auch einfach mit nach New York geschleppt, ohne einen genauen Grund zu nennen. Ich hätte also das Recht dazu gehabt gereizt zu sein, doch das war ihr egal. Mit böse funkelnden Augen warf sie mir einen kurzen Blick zu. "Woher kommt plötzlich dieser freche Ton?" Ihre tiefe und zänkische Stimme vibrierte in meinen Ohren. "Tut mir leid ..." murmelte ich. Ich sollte sie besser nicht wütend machen, dachte ich mir. Das hatte schon öfters schlimme Folgen herbeigeführt. "Es ist noch nichts Großartiges. Du sollst nur jemanden für mich ausfindig machen und diese Person so gut es geht im Auge behalten. Am besten findest du sogar die Adresse heraus. Glaubst du, das bekommst du hin?" Ich nickte als Antwort. "Gut. Ich habe vollstes Vertrauen in dich, mein Mädchen." grinste sie und schrieb mir den Namen auf einen kleinen Zettel auf. Ich hasste es, wenn sie mich so nannte und sie wusste, dass ich es hasste. Ich war nicht ihr Mädchen! Ich war auch nicht ihr Eigentum, selbst wenn sie es gerne so sah. "Und diese Person finde ich in der Schule?" Mit fragendem Gesicht sah ich ihr dabei zu, wie sie mir den Zettel in die Hand drückte. Ihre langen, pink lackierten Nägel piksten mich. "Sie ist Lehrerin. Du solltest sie also schnell finden können." Freya drehte den Stuhl wieder zum Computer. Nachdenklich schaute ich auf den Namen. Christina Ashton.

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