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Als der Alarm meines Handys an diesem Morgen klingelt, bin ich sofort hellwach. Normalerweise brauche ich Stunden, um aus dem Bett zu kommen, doch heute ist es anders. Heute wird mein erster Tag an der Hochschule in Kuopio sein. Ich werde das Studium beginnen, von dem ich seit Jahren rede, ich werde von zu Hause wegziehen, werde weg sein, von allem, was ich kenne. Das erste Mal in meinem Leben werde ich ein bisschen viel mehr auf mich allein gestellt sein. Das Gefühl von unglaublich großer Vorfreude in mir vermischt sich schon seit Tagen mit immer mehr Angst, doch ich schätze, das ist normal. Als ich meine Beine aus dem Bett schwinge und meine Füße schließlich auf das Parkett finden, merke ich, wie weich meine Knie sind. Ich schließe die Augen und atme tief durch.  Ganz ruhig.  Eigentlich war ich noch nie ein nervöser Mensch. Aber an Tagen wie heute, entlädt sich vermutlich die Energie der Nervosität, die ich sonst ganz gut unter Kontrolle habe. Das war schon immer so. Früher als Kind an Lesewettbewerben, Konzerten, Klassenfahrten, Geburtstagen, am Morgen von Urlauben, an diesen Tagen war ich schon immer wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett gesprungen, einfach, weil ich wusste, dass etwas anders werden würde. Anders, spannend, aufregend. Das brauchte ich anscheinend schon immer. An den gewöhnlichen Tagen brauchte ich hingegen zehn Wecker. Heute war es jedenfalls anders.

„Rebekka?", höre ich die Stimme meiner Mutter, die durch die Tür zu meinem Zimmer gedämpft wird. Als sie sich öffnet, steckt meine Mutter den Kopf herein und lächelt. „Wollte nur gucken, ob du wach bist." Ich lache leise. „Mum, du weißt schon welcher Tag heute ist, oder?", scherze ich. Meine Mutter zieht die Augenbrauen kraus. „Moment...", murmelt sie und macht ein nachdenkliches Gesicht, bis ihr Blick auf meine gepackte Tasche am Boden fällt. „Ach stimmt.", stöhnt sie und führt zwei Finger an ihre Schläfen. „Meine Lieblingstochter fängt ein Leben ohne mich an und verlässt mich, wie konnte ich das vergessen!" Ich lache und schüttle den Kopf. Sehr witzig. „Ich ziehe mich an, dann können wir zusammen frühstücken, ja?" Meine Mutter nickt und sieht mich verträumt an. Dann atmet sie tief durch und verschwindet. Ich seufze leise und stehe schließlich auf, um ins Bad zu gehen. Vorm Spiegel sehe ich trotz meines hellwachen Gemüts  ein todmüdes Gesicht. Kurzerhand drehe ich kaltes Wasser auf und mach mein Gesicht damit nass, um auch körperlich wach zu werden. Dann öffne ich meine Haare, die zwei Zöpfe, die ich extra gestern Abend geflochten hatte. Braune, lange Strähnen fallen mir nun wellig über die Schultern. Ich lächle zufrieden. Auf dem kleinen Hocker neben dem Waschbecken liegen die Jeans und die weiße Bluse, die ich mir gestern sorgfältig raus gelegt hatte. Ich lache leise über mich selber. An diesen Tagen, an denen ich keine zehn Wecker brauche und an denen alles anders ist, werde ich auch immer ganz anders. Ich lege mir sonst nie Sachen raus, geschweige denn überlege mir, was ich anziehen soll. Vielleicht habe ich an diesen Tagen immer die Hoffnung, eine Chance für den Anfang einer besseren Version meines Ichs zu bekommen, aber für gewöhnlich hält diese Vorzeigeversion von Bekka Hietanen genau einen Tag lang. Danach hetze ich mich wieder ab, weiß nicht was ich anziehen soll oder ärgere mich über zerknitterte Shirts, die seit einer Woche unter dem stets vor zu findenen Kleiderhaufen in meinem Zimmer liegen. Schnell ziehe ich mich an und schnappe mir die gepackte Tasche neben meinem Bett, um sie über meine Schulter zu schmeißen. An der Tür werfe ich einen Blick durch mein Zimmer und werde bereits melancholisch. Irgendwie fühlt es sich komisch an zu wissen, ab morgen nicht mehr hier zu sein zu werden. Und ich hasste es schon immer an materiellen Dingen festzuhalten, aber merkwürdiger Weise habe ich jetzt das Gefühl, mich von jedem einzelnen Gegenstand in diesem Zimmer verabschieden zu müssen. Schnell schließe ich die Tür. Was ein Quatsch Bekka. Du könntest jedes Wochenende zurück kommen. Es sind nur zwei Stunden Fahrt bis nach Kuopio und meine Mum hat mir schon ungefähr hundert Mal innerhalb der letzten Woche gesagt, dass ich zurück kommen kann, wann immer ich wollte.

Als ich in die Küche komme, schnappe ich mir den Kaffee, den meine Mutter auf den Tresen gestellt hat und lasse mich auf einem der Stühle nieder. „Ich nehme an, du willst nichts essen?", fragt sie und setzt sich mit ihrem Frühstück mir gegenüber. So war es gewöhnlich, wenn es hieß „zusammen frühstücken", denn ich aß morgens nie etwas. Meine Mum fand das noch nie gut, aber mittlerweile hat sie aufgegeben, ihre erwachsene Tochter, deswegen zu kritisieren.           Das Frühstück verläuft weitestgehend schweigend, dafür toben die Gedanken in meinem Kopf. Ich hoffe, ich finde allein den Weg nach Kuopio. Zwar waren ein Freund und ich letzte Woche erst zusammen hingefahren, aber mein Talent für Orientierung und dafür, sich Wege zu merken, haben schon immer zu wünschen übrig gelassen. Genauso oft wie meine Mum mir versichert hatte, dass ich hier immer willkommen wäre, hatte sie mir auch angeboten, mich hinzubringen, aber das wollte ich auf keinen Fall. Ich konnte noch nicht einmal richtig erklären warum, aber ich wollte mich nicht auf dem Campus von ihr verabschieden. Dann würde ich mich noch einsamer fühlen. Wenn sie nie wirklich da war, in meinem Zimmer, in den Fluren, die bald mein Zu Hause sein würden, dann würde sie für mich auch nicht dahin gehören. Rein vom Ort her. Klingt vielleicht nicht ganz logisch, aber für mich ist es irgendwie so. Ich frage mich, wer und wie meine Mitbewohnerin wohl ist, die ich letzte Woche leider noch nicht kennengelernt habe, da sie zu Hause bei ihrer Familie war. Ich frage mich, wie die Kurse, die ich gewählt habe sind und ob ich schnell Anschluss finden werde. Wird es so sein, wie ich mir die UOK vorgestellt habe?

„Rebekka?" Die energische Stimme von meiner Mutter reißt mich aus den Träumereien. „Sorry, was hast du gesagt?" „Ob du gestern noch getankt hast." Ich verdrehe kurz die Augen und nicke dann. „Du findest den Weg doch, oder?" Ich nicke. „Hast du alle Ladegeräte? Handy? Laptop?" Ein weiteres Nicken. „Zahnbürste?" „Mum! Ich habe alles." Ich stehe lachend auf und stelle die Tasse in die Spüle, ehe ich mich auf die unterste Treppenstufe setze, meine Chucks in die Hand nehme und ein letztes Mal in Gedanken durchgehe, ob ich nicht doch irgendetwas lebenswichtiges vergessen habe. Meine Mum stellt sich in den Türrahmen zwischen Flur und Küche. Ich weiß, dass sie mich traurig ansieht, deswegen richte ich meinen Blick weiterhin auf meine Schnürsenkel und sage gar nichts. Ich will nicht weinen. Ich bin nur zwei Stunden weg. Ich kann jederzeit zurück kommen. Als ich aufstehe, trifft mich genau der Blick, den ich erwartet hatte. „Bist du dir sicher, dass ich dich nicht bringen soll?" Ich seufze leise und zwinge mich dazu, zu lächeln. „Ich fahre allein." Dann wedel ich mit meinem Schlüsselbund in der Luft herum, dessen silberner Herzchenanhäger das gewohnte Klingeln von sich gibt. Ich schließe ihn in meine Hand. „Meine Große.", sagt sie stolz und breitet ihre Arme aus. Ich schmiege mich an sie und atme tief den vertrauten Geruch von zu Hause ein. „Du meldest dich, wenn du da bist, ja?", murmelt sie in meine Haare. Ich nicke und stoße mich nach ein paar Sekunden bereits wieder sanft von ihr weg. Sie weiß, dass ich eher auf kurze Abschiede stehe. „Ich melde mich in zwei Stunden." Sie nickt und ich weiß, dass es ihr schwerfällt. „Fahr vorsichtig, Mäuschen.", flüstert sie und stellt sich auf die Zehenspitzen, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Tschau.", sage ich leise und packe die Türklinke hinter meinem Rücken, um sie zu öffnen. Ich lächle meine Mum ein letztes Mal an, gehe durch die Tür und mache eine winkende Handbewegung, bevor ich die Tür schließe, um weiteren Blickkontakt zu vermeiden. Ich hasse es, wenn sie mich so ansieht. Es war dieser Blick, den nur Mütter so gut drauf haben. Dieser „Die Zeit vergeht so verdammt schnell, jetzt ist mein kleines Baby groß geworden und marschiert allein in die weite Welt hinaus-Blick" Sobald die Tür geschlossen ist, schwindet mein Lächeln und ich schließe die Augen. Einen Moment lang stehe ich noch vor der Tür, dann hopse ich eilig die Treppenstufen vor unserer Haustür runter und steige in mein Auto. Bevor ich es mir anders überlegen könnte.


Tangled UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt