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Etwas über eine halbe Stunde später sind wir an dem See angekommen, von dem Alma gesprochen hat. Eine Freundin von ihr, Ida, hat uns abgeholt, obwohl ich als wir angekamen noch nicht einmal verstand, warum wir nicht direkt gelaufen waren. Der See wäre zu Fuß sicherlich nur zwanzig Minuten entfernt gewesen. Anscheinend lag es einfach auf dem Weg. Wie ich erfuhr, studiert Ida nämlich auch nicht. Sie ist zwei Jahre älter als wir und arbeitet in einer Bar in der Stadt. Da hat sie Alma kennengelernt, wie mir diese zuvor erzählte.
Ida hat lange, dunkelblonde Haare, die nach unten in ihre Spitzen in einem perfekten Übergang heller werden. Ihr Auftreten ist ebenso perfekt wie Almas. Bis jetzt scheint auch sie ganz nett. Den Weg reden wir weitestgehend über das tolle Wetter, welches man, wenn es hier schon einmal so weit kam, einfach würdigen muss. Ida parkt ihr Auto auf einem Parkplatz, auf dem schon bereits viele andere stehen. Die von Bäumen geschützten, heiß begehrten Schattenparkplätze sind natürlich alle bereits belegt. Ida hat also keine andere Wahl, als ihr Auto in die pralle Sonne zu stellen.
Nachdem wir Picknickdecken und Handtücher aus dem Auto geschafft haben, machen wir uns auf den Weg zu dem See. Kaum haben wir wenige Schritte eines Trampelwegs durch einen dichten Wald hinter uns gelegt, höre ich bereits das Platschen von Wasser und hohes Mädchengequietsche. Je weiter wir gehen, desto mehr und heller werden die warmen Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen zu uns durch dringen und unsere Nasen kitzeln.
Je weiter wir gehen, desto tiefer steigt mir der Geruch von Sommer in die Nase, genauso wie das Gefühl, welches langsam meinen ganzen Körper ausfüllt und meine Venen mit neuer Energie flutet. Ich fühle mich auf eine merkwürdige Weise unglaublich gut. Ich meine, ganz pragmatisch betrachtet, könnte man sagen, dass ich mit einer Gruppe von Leuten zusammen unterwegs bin, die ich kaum kenne, an einem Ort, der mir noch fremder ist. Trotzdem fühle ich mich sicher, wohlmöglich ein wenig zu sicher, aber für diesen Moment lasse ich meine positiven Gedanken zu. Es fühlt sich an, wie frischer Wind in meinen Segeln, ein kleiner, aufregender Neuanfang.
Es ist leicht schwül, fast drückend, doch umso mehr freue ich mich darauf, in kaltes Wasser zu springen. So fies das Wetter in Finnland auch manchmal ist, Tage wie heute würden für mich immer die dunklen Wolken und weißen, kalten Schneestürme wett machen.
Einige Minuten später sind wir am Ende des Pfads angelangt, sodass ein wunderschöner See zum Vorschein kommt.
Er ist relativ groß, auch auf der anderen Seite des Wassers spielen Kinder am Ufer. Ich sehe mich um und stelle fest, dass ich wohl auf der Seite der Jugendlichen gelandet bin. Anscheinend gibt es hier eine Art Trennung. Familien und Kinder in ihrer glücklichen Unbeschwertheit auf der einen Seite - pubertierende, knutschende, kaltes Bier-trinkende Jugendliche in Mitten von Identitätskrisen auf der anderen. Naja, vielleicht
sind hier auf den zweiten Blick ja auch noch normalere Exemplare unseresgleichen.
Als wir um eine Ecke kommen, in der einige verrostete Fahrräder aneinander lehnen, gibt Alma plötzlich ein quietschendes Geräusch von sich und erntfernt sich schleichend mit einem verschwörerischem Grinsen von uns. Mir entgeht keineswegs, dass Ida etwas genervt die Luft ausstösst, als sie uns mit einem fluüchtig entschuldigenden Lächeln verlässt und in Null Komma nichts in den Armen eines blonden Typens steht. Leevi. Ich beisse mir auf die Lippe und versuche Idas Gesichtsausdruck zu analysieren. Sie ist sichtlich genervt. Ihr Blick spiegelt meine Erinnerung an ihn vor wenigen Stunden wieder. ,,Kennst du Leevi?", frage ich vorsichtig und kaue unwillkürlich auf dem Fleisch der Innenseite meiner Wange rum. Eine unglaublich dumme Angewohnheit bei Nervosität und Unbehaglichkeit. Bei dem Klang seines Namens aus meinem Mund wird mir etwas komisch. Er ist mir noch unsympathischer als ich es mir eingestanden habe. Erstens hasse ich es, Menschen nicht zu mögen. Und zweitens, sollten mir seine Kommentare von eben viel egaler sein. Ich konnte immerhin nicht riechen, dass hinter der Tür meines neuen Zimmers meine Mitbewohnerin, die eigentlich auf einer Exkursion sein sollte, mit einem Jungen, der eigentlich nicht auf den Mädchenkorridoren sein sollte, rumknutscht. Es ärgert mich ungemein, dass ich mir Gedanken um solche Vollidioten mache, anstatt dass ich es einfach gut sein lasse. Ich kann es nie, egal wie sehr ich mich anstrenge. Es kann mir nicht nicht egal sein. Es zählt für mich immer, irgendwie.
Ida neben mir schnauft leise und scharrt mit einem Fuß in dem bereits abgenutzten Gras rum, auf dem wir  stehen. Bei den chaotischen Gedanken in meinem Kopf, habe ich kurzzeitig vergessen, dass ich vor wenigen Sekunde eine Frage gestellt habe, sodass ich beinahe bei dem verächtlichen Laut, den Ida von sich gibt, erschrecke. ,,Kennen ist übertrieben. Aber das, was ich von ihm weiss, reicht vollkommen aus, um zu wissen, dass ich keine weiteren Annäherungsversuche brauche." Ihre Stimme taut am Ende des Satzes von Ekel zu Sarkasmus auf und endet in einem Lachen. Ich kichere leise und bin gleichzeitig erleichtert, dass ich nicht die Einzige bin, die tendenziell eher eine Abneigung ihm gegenüber hat. Nicht, dass ich ihm viele Feinde wünsche, aber wenigstens hinterfrage ich die Richtigkeit meiner Gedanken nicht mehr allzu sehr wie vorher. ,,Ich verstehe einfach nicht, was sie an ihm findet.", seufzt Ida. Wir zucken beide etwas zusammen, als ein Mädchen, welches an uns vorbei geht, über ihre Schulter ,,Gut im Bett!" ruft. Ich reisse erschrocken meine Augen auf und sehe dem Mädchen hinteher, während ihre Worte in meinem Kopf nachhallen. Gut im Bett.
Ida kichert und schüttelt den Kopf. ,,Ich schätze, an solche Kommentare musst du dich gewöhnen, wenn es um Leevi geht.", lacht sie als sie die Non-Verbale Reaktion in meinem Gesicht auf die Worte des fremden Mädchens sieht.
Sie hatte uns also quasi gerade gesagt, dass sie schon mit ihm geschlafen hatte. Einfach so- so wie ich anderen mitteilte, woher ich kam. Die Tatsache, dass Idas Blick ebenso kritisch ist wie meiner, beruhigt mich ein bisschen. Ich weiß, dass ich bei dem Thema verklemmt bin, mit keinerlei Erfahrungen. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auch in ein paar Jahren noch nicht meine Sexpartner wildfremden Menschen auf öffentlichen Plätzen hinterherrufen werde.
,,Wahrscheinlich wirst du hier auch nur wenige Mädels finden, die noch nicht die Beine für ihn breit gemacht haben.", murmelt Alma sarkastisch und sieht dabei Alma und Leevi abwertend an. Mein Blick folgt ihr und bleibt an den Lippen
der Beiden hängen, die gerade innig aufeinander liegen, während Leevi die Hände in ihrem Bikinihöschen verankert hat.
Ida beginnt zu erklären, dass die beiden sich in der Bar kennengelernt haben, in der sie arbeitet und erzählt, dass Alma sich Hals über Kopf in ihn verliebt hat, als er mit seiner Band dort einen kleinen Gig hatte. Als sie sagt, dass Leevi der Sänger besagter Band ist, stelle ich mir vor, wie es sich wohl anhört, wenn er singt. Auf der einen Seite kann ich mir nicht vorstellen, dass er überhaupt singt-schon gar nicht irgendetwas Ruhiges-, aber auf der anderen Seite, wenn ich mich an seine tiefe Stimme erinnere, könnte diese schon etwas Besonderes abgeben. Ich glaube, dass sie mir noch erzählt, wie die Band heißt, aber den Namen bekomme ich nicht mit. Ich kann meinen Blick nicht von den Beiden abwenden. Ihre Körper schmiegen sich eng aneinander und ihre Lippen lassen nicht voneinander ab, keinen einzigen Moment. Ich ertappe mich dabei, wie zwei Fingerspitzen meiner rechten Hand unfreiwillig den Weg zu meinen Lippen finden und jene sanft berühren. Wie sich ein Kuss wohl anfühlt? Ein richtiger Kuss. Nicht der mit einem Kuscheltier, so wie ich es meinte, vor ungefähr fünf Jahren heimlich auf meinem Kinderhochbett üben zu müssen. Ich verfluche jede Mädchenzeitschrift von damals noch immer, die vorgeschlagen hat, Küssen mit Plüschtieren zu üben. Die Zeitschriften hätten mir lieber sagen sollen, dass ich noch mindestens, allermindestens fünf Jahre Zeit habe. Vielleicht ja auch zehn. Zumindest hätte ich mir dann die Fusseln meines Kuschelfautiers in meinem Mund erspart.
Auf eine merkwürdige und unerklärliche Weise kann ich mir trotzdem vorstellen, dass sich ein echter Kuss sogar gut anfühlt. Es muss sich gut anfühlen. Sonst würden es ja nicht alle ständig machen. Ich nehme mir vor, später die ungefähr hundertse Notitz in meinem Buch dazu zu machen.

Mein Blick ist immernoch starr auf Romeo und Julia gerichtet, mittlerweile nur etwas verschwommen von meinen Gedanken. ,,Wollen wir uns schon irgendwo einen Platz suchen? Die zwei brauchen bestimmt noch ein bisschen. Sie haben sich ja seit gestern nicht gesehen.", holt mich Ida zurück. Ihre letzten Worte triefen vor Ironie und Sarkasmus. 'Nein, sie haben sich seit eben nicht gesehen; seitdem ich in ihre Knutscherei gestolpert bin.', füge ich in Gedanken hinzu, spreche es aber nicht aus, weil ich die Beiden vor Ida nicht noch schlechter machen will, ohne wirklich etwas über sie zu wissen. Ida ist ohnehin nicht gut auf Leevi zu sprechen. Wenn sie jetzt noch wüsste, dass Alma heute Vormittag auf einer Exkursion ihres Dramaturgiekurses sein sollte, anstatt ihren Casanova abzuknuschen, würde sie vermutlich höchstpersönlich zwischen die Beiden gehen.

Ich reiße meinen Blick los und sehe endlich etwas Anderes an, als sich liebende Lippen. Ida mustert mich und scheint meinen Gesichtsausdruck zu analysieren. In mich schleicht sich das ungute Gefühl, dass ihr aufgefallen ist, wie lange ich die beiden angestarrt habe. Ich sollte lernen, unauffälliger zu starren.
,,Äh, ja.", antworte ich viel zu spät, ehe ich darüber nachdenken kann, was nochmal die Frage war. Ich beiße mir nervös auf die Unterlippe. ,,Sonne oder Schatten?", hilft sie mir auf die Sprünge. Ich sehe mich um und stelle fest, dass der einzige schattige Platz, der keine Meilen von dem See entfernt ist, viel zu dicht an Leevi und seiner Gruppe von Jungs ist. ,,Sonne.", antworte ich deswegen und zwinge mich zu einem zu unsicherem Lächeln. Ida kommentiert die Röte, die ich mittlerweile auf meinen Wangen spüre, glücklicher Weise nicht und nickt stattdessen über ihre Schulter hinweg. ,,Lass uns etwas weiter ans Wasser gehen.", schlägt sie vor und geht los, ehe ich ihr folge. Wir finden einen schönen Platz auf der Wiese, der noch nicht allzu zugepflaztert ist mit Handtüchern und Picknickdecken und schlagen unser kleines Lager auf. Ida beginnt, sich einzucremen während ich heimlich mein Buch aus der Tasche krame.

Freitag 02. Juni 2017, Bekka

,,Ihre Lippen verweilten eng aufeinander,
schmiegten sich hungrig aneinander,
passten fehlerfrei ineinander,
wie zwei für sich gemachte Gegenstücke.
Sie kannten sich blind,
waren einander Luft zum Atmen.

Jene Küssen schmeckten nach Neugier, Leidenschaft, Verlangen und Lust.
Sie schmeckten nach Gier,  Sehensucht,  Selbstbestätigung und Verzweiflung.

Schmeckten sie nach Liebe? Lag der Geschmack von Liebe auf beider Lippen?"

Tangled UpWo Geschichten leben. Entdecke jetzt