Kapitel 2: Der Abend, der alles änderte

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Mein Wecker riss mich am nächsten Morgen um halb sieben aus dem Schlaf. Ich tastete blind im Halbdunkeln herum, als ich nach dem Knopf suchte, der den Wecker verstummen lassen würde. Das schrille Klingeln tat mir schon in den Ohren weh, als ich es endlich schaffte, ihn auszuschalten. Grummelnd schlug ich die Bettdecke zurück und kam etwas ungeschickt auf die Füße.

Für einen Moment überkam mich leichter Schwindel, und dann stürzte ich auch schon aus meinem Zimmer, quer durch den Flur in das gegenüberliegende Bad und kauerte mich über die Toilettenschüssel. Gott, war mir schlecht. Meine gesamte Magengegend war verkrampft. Dabei hatte ich nicht meine Tage, und es war ein völlig anderer Schmerz, viel großflächiger und stechender.

„Jane?" Gwen war schlaftrunken und in ihrem heißgeliebten knallpinken Schlafanzug ins Bad gestolpert und sah mich ein wenig schockiert an. „Alles gut?", fragte sie mit großen Augen.

„Ja, schon gut", sagte ich mit schwacher Stimme. Das Gefühl kehrte langsam in meine Glieder zurück und ich fühlte mich besser. „Es ist nichts."

Gwen schaute mich immer noch aus großen Augen an und ich schaffte ein überzeugendes Lächeln. „Alles in Ordnung, Gwenny. Bin wohl zu schnell aufgestanden."

Sie erwiderte das Lächeln unsicher. Meine kleine Schwester war einfach zu süß wie sie dort im Türrahmen stand – mit langen, blonden, vom Schlaf zerwuschelten Haaren und ihrem pinken Schlafanzug, der ihr schon seit drei Jahren vorne und hinten nicht mehr passte. Aber sie bestand darauf, ihn zu behalten. Sie liebte ihn einfach zu sehr, auch wenn er mittlerweile ganz verwaschen und eingelaufen war.

Das schlechte Gefühl verschwand vollkommen und ich fragte mich, was zur Hölle das gewesen war. Wenn es wieder auftauchte, musste ich heute Nachmittag unbedingt Mum fragen. Vielleicht hatte ich ja morgens leichte Kreislaufprobleme; bei Mum war das jedenfalls so. Aber solange es mir wieder besser ging, stand zu meinem Leidwesen einem Schulbesuch nichts im Wege.

Nach einem schnellen Frühstück ging ich ins Bad. Dort sah ich in den Spiegel. Ein fünfzehnjähriges Mädchen schaute mit wachen Augen zurück. Meine Augen waren, als einzige in der Familie, leuchtend grün. Alle anderen hatten blaue oder braune Augen. Mum sagte immer, ich hätte mein Aussehen von meiner Großmutter – lange, schwere, leicht lockige dunkelrotblonde Haare, feine Gesichtszüge, große Augen mit dunklen Wimpern. Eine gerade, schmale Nase, ein schmales Kinn und volle, fast schon trotzig aussehende Lippen. Der Blick aus meinen Augen war intensiv und klar. Ich hatte das große Glück, von Akne verschont zu sein -bisher jedenfalls. Es konnte noch alles passieren. Momentan beschwerte Jessie sich darüber, dass ich so dürr war wie eine Bohnenstange, und ich musste ihr Recht geben. Selbst in meinem Gesicht war kein Gramm Speck zu viel, was die feinen Züge nur noch mehr verdeutlichte und mich beinahe abgemagert wirken ließ. Ich hatte keine vollen, wohlgeformten Körperproportionen. Keine Kurven, und Brüste fast gar nicht. Im Gegensatz zu Jessie, denn sie war schlank und weiblich, und ich beneidete sie ein bisschen darum. Jungs würden mich als „süß" bezeichnen, aber keineswegs als „schön". Aber Mum sagte mir immer, dass ich noch ein wenig wachsen würde und dann alles anders aussehen würde. Ich war vielleicht noch nicht so „fertig" wie andere Mädchen in meinem Alter.

Da ich heute faul war und vom gestrigen Training immer noch Muskelkater hatte, setzte mein Dad mich an der U-Bahn-Station ab. Er konnte mich manchmal auf dem Weg zur Arbeit mit dem Auto ein kleines Stückchen mitnehmen.

„Danke!", rief ich ihm zu. „Du bist der Beste!"

Dad lächelte, dann wünschte er mir noch viel Spaß in der Schule (den ich nicht haben würde) und fuhr weiter.

Ich schaffte gerade noch meine U-Bahn und starrte während der Fahrt in die Schwärze der Tunnel, wiederholte im Kopf meine Französischvokabeln und grübelte vor mich hin.

Magie - Wolf's EyesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt