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Wieder konzentrierte ich mich auf meinen Atem, wurde ruhig und führte das Messer an meinem Arm.

Plötzlich vibrierte mein Handy.

"Hi"

Verwirrt nahm ich es in die Hand. Es war sie. Wer sonst? Aber Ich hatte den Kontakt zu ihr schon vor über einem Jahr abgebrochen. Warum schrieb sie mir jetzt?

"Hi"

Was wollte sie von mir? Ich hatte sie ziemlich übel von mir gestoßen und verletzt...

"Wie gehts dir?"

Ich überlegte kurz und entschloss mich dann, ihr einfach zu erzählen, wie es mir tatsächlich ging. Ich hatte ihr schon früher alles erzählen können. Außerdem war sie auch depressiv und konnte mich vielleicht ja sogar verstehen.

Sie konnte tatsächlich...
Ich erzählte ihr alles was im letzten Jahr passiert war. Wie ich dazu übergegangen war, zu versuchen mich zu ritzen, wie meine Selbstmordgedanken immer intensiver geworden waren, wie ich mich immer weiter von meiner Umwelt abgeschottet hatte... alles eben.
Nach fast einer Stunde war ich schließlich fertig.
Nach einer weiteren Stunde war auch sie mit ihrer Zusammenfassung des letzten Jahres fertig: Sie hatte tatsächlich angefangen sich zu ritzen: wurde zwei Mal von ein paar Jungen begrabscht, einmal hatte jemand mehrere Zigaretten auf ihrem Arm ausgedrückt und sie hatte ihre letzte Freundin an ihrer Schule verloren.
Plötzlich fühlte ich mich einfach nur noch lächerlich. Ich bildete mir ein, mir gehe es schlecht und ihr passierte sowas. Gleichzeitig bewunderte ich sie. Das alles mitzumachen und immer noch weiterzugehen musste unglaublich viel Kraft erfordern.
Ich hätte ihr gerne mit ihren Problemen geholfen, aber wie sollte jemand wie ich jemandem wie ihr schon eine Hilfe sein? Mal ganz davon abgesehen, dass sie 700km weit entfernt lebte.
Wobei auch das wohl eher eine praktische Ausrede für mich war, weshalb ich ihr nicht helfen könne.

"Mach dir keine Gedanken um mich. Ich komm schon klar."

Es war als könne sie Gedanken lesen. So war sie schon immer gewesen... so unglaublich stark. Sie wusste immer, was man gerade hören musste.
Wütend über meine Feigheit und Unfähigkeit rammte ich mir die Faust ins Gesicht. Zumindest hätte ich das gerne getan... stattdessen hielt ich kurz vorher inne. Wie hätte ich meinen Eltern einen Bluterguss im Gesicht erklären sollen? Besser ich ließ es bleiben...

Wieder kam das Lachen meiner Klassenkameraden in meinen Gedanken auf:

"Bemitleidest dich selbst, aber jemandem, dem es wirklich schlecht geht, kannste' nicht helfen?"
"Wenigstens bestrafen könntest du dich dafür. Verdient hastes' sowieso."
"Armselig"

Ich war müde... nicht nur schläfrig-müde, sondern auch müde weiterzuleben, mich immer wieder selbst zu enttäuschen. Ich wollte einfach nicht mehr.
Ich verabschiedete mich von ihr mit der Begründung morgen wieder früh raus zu müssen und legte das Handy weg.

Inzwischen war es bereits nach 3:00 Uhr mitten in der Nacht.
Was wohl passieren würde, wenn ich einfach gar nicht schlief? Vermutlich würde es niemandem auffallen...

Meine Wut auf mich selbst ließ mir tatsächlich auch danach noch eine Weile lang keine Ruhe. Schließlich schaffte ich es jedoch, meine Gefühle in mir zu vergraben, zu unterdrücken, wie ich es ständig tat, und noch ein wenig zu schlafen.

SuizidWo Geschichten leben. Entdecke jetzt