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Ich wusste von der Klassenliste, wo der Junge wohnte. Also ging ich auf direktem Wege dorthin. Der Weg war mit dem Fahrrad nicht weit. Während ich zu ihm fuhr, ging ich meinen Plan in Gedanken noch einmal durch.

Vor dem Haus angekommen bekam ich dann doch Angst, aber ich konnte jetzt nicht mehr umkehren.

Ich hatte in der Schule einmal mitbekommen, wie er erzählt hatte, dass er mitten in der Nacht irgendetwas auf der Straße gesehen hatte. Sein Zimmer war also auf der Seite, vor der ich gerade stand.

Es gab dort vier verschiedene Fenster. Davon gehörte eins zu einem Badezimmer, wie man eindeutig an der Musterung der Scheibe erkannte.

Blieben also noch drei zur Auswahl – zwei im Erdgeschoss, eins im ersten Stock. Durch das obere Fenster fiel noch ein wenig Licht.

2:1... jetzt brauchte ich Glück.

Ich stellte mein Fahrrad ein Stück weiter weg, sodass er es von seinem Zimmer aus nicht sehen konnte. Nervös beobachtete ich die Gegend, doch alle Fenster waren dunkel und verschlossen. Niemand sah mich.

Dann suchte ich mir einige größere Kieselsteine zusammen und warf sie gegen das obere Fenster.

Nach ein paar Treffern sah ich, wie die Rollladen hochgezogen wurden, schnell sprang ich in die Auffahrt des Nachbarhauses und versteckte mich. Ein paar Minuten später hörte ich, wie die Jalousien wieder runtergelassen wurden. Ich kam aus meiner Deckung hervor und warf noch ein paar Steine.

Plötzlich sah ich, wie das Licht vor der Haustür anging. Schnell stellte ich mich neben die Tür und wartete.

Jetzt hörte ich auch, wie sie aufgeschlossen wurde.

„Bitte lass es ihn sein und lass mich treffen."

Dann ging alles ganz schnell... Ich sah einen Fuß, der über die Schwelle gesetzt wurde, sprang hervor, packte die Person, die dort stand am Kragen und schlug mit all meiner Wut zu. Ich fühlte, wie eine Nase unter meinen Knöcheln brach. Blut spritze auf meine Faust. Ich hatte getroffen. Sofort wurde die Person bewusstlos und ich konnte sie gerade noch am Kragen halten.

Jetzt erkannte ich auch sein Gesicht. Es war der richtige gewesen. Erleichtert atmete ich auf und ein Lächeln bedeckte mein Gesicht. Das hatte gut getan. Rache. Ein wunderbares Gefühl.

Allmählich bemerkte ich jedoch, dass ich noch immer mit einem bewusstlosen Teenager in der Tür hing. Ängstlich horchte ich auf... es schien niemand mitbekommen zu haben. Das Haus war totenstill.

Ich legte den Jungen auf den Boden und schloss leise die Tür.

Ich schaute mich um... wo konnte mich niemand sehen?

Schließlich wählte ich den Garten des Hauses. Rechts sah ich einen dunklen Weg der wohl neben dem Gebäude dorthin führte. Also zog ich ihn hinter mir her und bewegte mich so langsam in Richtung meines Ziels.

Auf dem Seitenweg angekommen, entschied ich mich noch weiter zu gehen, weil man mich sonst zu leicht hätte sehen können.

Plötzlich packte mich die Angst:

„Ist das hier richtig?"

Es fühlte sich gut an, aber es war vollkommen falsch. Ich fühlte wie die Angst immer stärker wurde.

„Was tue ich hier?"

Im Garten angekommen legte ich ihn ab. Blut bedeckte sein Gesicht und schimmerte dunkel im Mondlicht.

Verdammt... sowas hatte ich nicht gewollt... ich hatte es ihm heimzahlen wollen, ja... aber das hier? Das war falsch.

Die Angst wurde immer größer und jetzt meldeten sich auch meine ständigen Begleiter:

„Na, du Versager?"

„Diesmal bist du richtig am Arsch."

„Im Bau solls' doch auch ganz schön sein."

Sie alle lachten mich aus für meine Dummheit. Doch nun meldete sich auch noch eine neue, verängstigte Stimme... ihre Stimme.

„Du Monster! Jemandem aufzulauern und ihn so zu überfallen und zuzurichten... Was bist du?"

Jetzt Schlug die Angst in totale Panik um.

Plötzlich sah ich, wie sich neben mir etwas bewegte. Erschrocken sprang ich auf. Eindeutig, er hatte sich bewegt, er wachte auf...

Was sollte ich tun?

Von Angst getrieben rannte ich den Weg neben dem Haus zurück, lief nach links zu meinem Fahrrad und fuhr so schnell weg, wie ich konnte. Die ganze Zeit drehte ich mich panisch um, konnte jedoch niemanden sehen.

Ohne darauf zu achten, wohin ich fuhr, hetzte ich weiter.

Irgendwann hielt ich mitten auf einem Feld an, weil ich nicht mehr konnte und setzte mich auf den rauen Asphalt.

Immer noch von Angst getrieben schaute ich mich um. Niemand.

Beruhigt atmete ich durch und verarbeitete, was gerade passiert war...

Jetzt hörte ich auch das Lachen im meinem Kopf wieder, wie sie sich über mich lustig machten, mich beleidigten oder einfach nur auslachten. Nur ihre Stimme ließ mich zum Glück in Ruhe.

Nach einer Weile hatte sich die Angst wieder gelegt und machte dem Selbsthass und der Selbstverachtung Platz. Ich musste diese Emotionen irgendwie rauslassen... konnte sie nicht wieder einfach nur runterschlucken und versuchen zu vergessen. Laut alles rauszubrüllen, wie ich es in Filmen gesehen hatte, traute ich mich nicht. Außerdem glaubte ich auch nicht wirklich, dass es helfen würde.

Stattdessen nahm ich die Tasche von meinem Rücken und holte das Messer raus. Ohne viel darüber nachzudenken rammte ich mir die Spitze in den Unterarm. Überrascht merkte ich, dass der erwartete Schmerz ausblieb. Blut lief von meinem Arm und tropfte auf dem Boden, doch ich fühlte nichts. Dementsprechend fühlte ich allerdings auch diese negativen Gefühle nicht mehr, wie ich erfreut merkte.

Ich zog das Messer wieder raus und betrachtete die rote Spitze. Irgendein Rest gesunden Menschenverstandes hatte mich wohl noch versucht zu stoppen, denn die Wunde war nicht sehr tief. Allerdings tiefer als jeder normale Schnitt.

Als ich merkte, was für ein Glück ich hatte, keine wichtige Arterie getroffen zu haben, fing ich dann doch an laut zu lachen. Ich lachte über die Ironie des Schicksals dieser beschissenen Welt, dass selbst in dieser Situation verhinderte, dass ich eine ernstere Verletzung bekam oder sogar starb.

Nach ein paar Minuten hatte ich mich wieder im Griff und beruhigt. Die Wunde hatte schon fast aufgehört zu Bluten.

Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühlte ich mich leicht und frei.

Lächelnd beobachtete ich meinen Unterarm, an dem noch immer ein wenig Blut herunterlief. Er sah beinahe schön aus, wie er so im Mondschein glänzte und leuchtete.

Nach einer Weile fuhr ich zufrieden mit meinem Fahrrad wieder zurück nach Hause, während die Sonne langsam schon wieder aufging. Daran, was ich eigentlich in dieser Nacht getan hatte, verschwendete ich keinen einzigen Gedanken.

SuizidWo Geschichten leben. Entdecke jetzt