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Lange konnte ich die Selbstvorwürfe nicht zurückhalten. Nach einer Weile übertönten sie auch den Hunger und Durst, bis sich auch die Stimmen wieder ihren Weg bahnten. Wie immer warfen sie mir vor, alles falsch gemacht zu haben, nichts wert zu sein und es endlich aufgeben zu sollen. Auch dieses Mal konnte ich ihnen nur zustimmen, was nicht wirklich zu einem stärkeren Selbstvertrauen beitrug.

Während die Sonne aufging und ich mich immer weiter Richtung Stadtrand bewegte, schienen mich die physischen und psychischen Schmerzen unter sich zu begraben, bis ich mich kaum noch aufrecht halten konnte und nur noch gerade aus stolperte.

Zwei Tage ohne Schlaf, anständige Mahlzeit, etwas zu trinken und mit den zwei Malen, in denen ich zusammen geschlagen worden war, waren einfach zu viel. Ich schaffte es nicht einmal, mich darüber zu freuen, dass es mir beschissen ging. Verdient hatte ich es zwar trotzdem noch, aber das half mir im Moment auch nicht weiter.

Ich sah mich um. Ein paar Menschen liefen auf der anderen Straßenseite entlang. Überrascht stellte ich fest, dass ich mich gar nicht mehr in der Stadt befand. Hier gab es keine Wohnungen und Läden mehr. Stattdessen sah ich einige Fabrikgebäude, zwischen denen verwahrloste Grasflächen lagen.

Insgesamt waren es vermutlich drei oder vier eigenständige Gelände.

Ich folgte der Straße, auf der ich mich bereits befand, bis sie an einer T-Kreuzung endete.

Von dort aus sah ich ein weiteres Gebäude, welches sich jedoch irgendwie von den anderen Fabriken abhob. Ohne weiter darüber nachzudenken, drehte ich mich in die entsprechende Richtung und stolperte darauf zu.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ich vor einem offenen Tor zum Stehen. Jetzt war auch klar, was dieses Gelände von den anderen unterschied. Auf dem Asphaltplatz vor dem Hauptgebäude, wo sich vermutlich mal ein Parkplatz befunden hatte, war überall Gras gewachsen. Die Scheiben der Fabrik selbst waren größtenteils eingeworfen worden und die Wände waren vollgeschmiert mit irgendwelchen Graffitis.

Kurzerhand passierte ich das Eingangstor und humpelte auf eine offenstehende Tür zu. Als ich eintrat, erkannte ich einen leeren Flur, von dem vier weitere Türen zu irgendwelchen anderen Räumen führten. Am Ende des Gangs führte eine Treppe in einen zweiten Stock.

An der Wand entlangschleifend bestieg ich diese und kam mir, oben angekommen, vor, als hätte ich einen Marathon hinter mir.

Ich wollte gerade weitergehen, auf eine weitere Tür zu, als die Erschöpfung und der Schmerz endgültig die Oberhand gewannen und ich bewusstlos umkippte.

Ich öffnete die Augen und musste mich erstmal kurz sammeln. Ich hatte völlig die Orientierung verloren, doch nach und nach kamen die Erinnerungen an die letzte Nacht und den Weg zu dieser Fabrik wieder zurück. Ich stützte mich an der Wand des Flurs ab und setzte mich auf.

Wie lange hatte ich geschlafen? Der Flur war stockdunkel und ich konnte kaum die eigene Hand vor Augen sehen, doch zum Aufstehen fehlte mir noch die Kraft. Vorsichtig nahm ich den Rucksack ab, wobei mir jede Bewegung Schmerzen zufügte. Er war offen. Nicht nur das, sie war auch noch vollkommen leer, wie ich darin herumtastend feststellte.

Mein Geld, meine Klamotten, die Taschenlampe und der Wecker, der Schlafsack, mein altes Taschenmesser und sogar der Kulturbeutel, alles war weg.

Wie hätte ein normaler Mensch jetzt wohl reagiert? Mit Frust? Wut? Angst? Nein. Ein normaler Mensch wäre gar nicht erst in meiner Situation. Trotzdem... ich hätte doch wenigstens irgendetwas fühlen sollen, oder? Warum war mir das alles egal?

Naja. So hätte ich ab jetzt wenigstens weniger zu tragen.

Ich legte die Tasche weg und stand langsam, mich an der Wand abstützend, auf. Mit den Händen tastete ich mich weiter vor, bis ich eine Tür fand und diese öffnete. Ich stand vor einem Raum, der vermutlich mal ein Büro gewesen war. In einer Ecke stand ein alter Tisch, der jedoch bereits mehrmals mit Graffiti dekoriert worden war. Der Raum wurde durch zwei kaputte Fenster vom Mond beleuchtet. Ich humpelte in den Lichtkegel und setzte mich unter eines der Fenster.

Meine Fingernägel waren vollkommen verdreckt und ein Nagel war so weit eingerissen, dass der Finger komplett von getrocknetem Blut bedeckt war. Mein linker Arm war ebenfalls dunkelrot verfärbt -vermutlich war die Stichwunde letzte Nacht wieder aufgeplatzt-, während sich zwei große Prellungen rechts bereits in ein dunkles Lila übergingen.

Ich hob mein Shirt. Hier sah es auch nicht besser aus. Eine besonders dunkle Stelle an meinen Rippen hatte sogar von einem Bruch herrühren können.

Was machte ich hier überhaupt noch?

Ich war völlig alleine. Ich hatte meine Familie verlassen und auch sie konnte ich nicht mehr erreichen. Ich wusste ja nicht mal ihren Namen, oder woher sie kam.

Abgesehen davon, hatte ich es nach dem, was ich getan hatte überhaupt noch verdient zu leben? Nicht nur dass ich zwei Menschen schwer verletzt hatte, nein, ich hatte auch meine Familie hintergangen und sie so verletzt. Wobei... war es nicht vielleicht auch besser für sie, wenn ich nicht mehr in ihrer Nähe war?

Ich steckte die Hand in meine Hosentasche und bemerkte, dass ich mein ‚neues' Messer noch hatte. In der anderen Tasche fand ich außerdem noch den Perso und das Geld, welches ich diesem Typen abgenommen hatte.

Ich holte das Messer raus. Ich hatte mal gesehen, wie jemand im Internet irgendwelche Tricks mit so einem Ding gemacht hatte.

Wer benutzte eine Waffe denn auf eine so sinnlose Weise? Messer waren zum Verletzen von Menschen gedacht.

Geistesabwesend setzte ich das Messer an meinem linken Arm an. Ich fühlte die kalte Klinge auf meiner Haut und drückte leicht zu. Sofort floss ein dünnes Rinnsal frischen Bluts unter ihr hervor. Zufrieden drückte ich fester zu. Das war es was ich verdient hatte.

Das anfängliche schmerzhafte Ziehen wurde bald von einer Taubheit überdeckt, die, von meinem Arm ausgehend, nach und nach meinen ganzen Körper von innen heraus auszufüllen schien. Ich fühlte weder die Klinge auf meinem Arm, noch den leichten Wind, der von draußen in die Fabrik zog, noch die Wand, an die ich mich lehnte. Nicht einmal den Boden, auf dem ich saß fühlte ich noch. Alles war taub.

Ich beobachtete weiter das Messer auf meinem Arm, während mehr und mehr Blut aus der immer tiefer werdenden Wunde hervorquoll. Es war inzwischen, als würde ich nur dabei zusehen, wie jemandes Arm verletzt wurde.

Immer tiefer und tiefer drang die Klinge in den Arm ein.

Jetzt wurde das Messer bewegt. Hin. Her. Hin. Her.

Immer mehr Blut bedeckte den Arm und tropfte schließlich auch auf den Boden.

Hin. Her. Hin. Her.

Ich hatte das Zeitgefühl vollkommen verloren.

Saß ich nun erst wenige Sekunden hier? Oder waren es doch schon Minuten?

War auch egal.

Hin. Her. Hin. Her.

Meine Augenlider wurden immer schwerer. Der Rand meines Blickfelds immer dunkler.

Aber ich musste weiter zusehen.

Musste das Messer verfolgen.

Die Klinge.

Das Blut.

Wie viel Blut hatte ich wohl schon verloren?

Die Bewegungen des Messers wurden langsamer.

Es wurde immer schwerer die Augen offen zu halten.

Ich musste wach bleiben.

Hin... Her...

Musste zusehen.

Hin...

Her...

Dunkelheit.

SuizidWo Geschichten leben. Entdecke jetzt