Paralyzed
It feels like I'm paralyzed
And I can't
Escape from the prison I'm living in
Tim und Stegi hatten sich auch nach einigen Jahren der Freundschaft noch nicht einmal getroffen. Das lag einfach daran, dass sie immer wieder davon sprachen, dass sie das mal machen müssten, aber keiner konkrete Pläne machte und auch keiner den anderen zu konkreten Plänen drängte.
Ihre Freundschaft brauchte keine körperliche Anwesenheit und funktionierte trotzdem wunderbar.
Das war auch ein starkes Argument für Tim, warum er sich auf keinen Fall in Stegi verlieben könnte, denn er hatte mal gelesen, wie unglaublich wichtig der Geruch einer Person für Liebe war. Jemand konnte so sympathisch und passend sein wie er wollte - wenn er nicht richtig roch, brachte es gar nichts.
(Tim war insgeheim ein bisschen froh, dass noch nie ein Treffen stattgefunden hatte. Nicht nur wegen der Geruch-Sache, sondern auch allgemeiner Sympathie und allem.
Was, wenn ein Treffen etwas änderte?
Ihr Status Quo war bequem und dabei so wertvoll und perfekt. Egal, wie sicher er sich war, dass sich durch ein Treffen nichts oder kaum etwas ändern würde, war sicher doch sicherer als fast ganz sicher.)
Als Stegi Tim also erzählte, dass er wegen eines ATC-Konzerts nach Köln kommen würde, wusste Tim kaum, wie er Luft holen sollte. Bis eben war die Stimmung absolut entspannt gewesen, aber das traf Tim vollkommen unerwartet und sein Herz machte ein paar unelegante Stolperer.
„Kommt man von Essen gut nach Köln oder sollte ich lieber Smurf oder so fragen, ob ich bei ihm pennen kann? Nach dem Konzert sofort zurück nach Karlsruhe ist mir echt zu viel Stress, ne?"
„Hm", machte Tim unbestimmt.
„Der Verkauf geht bald los und äh... willst du dann mitkommen?", fragte Stegi fast zögerlich.
Tim schluckte und überlegte, ob er das wollte. Ob er seinen Status Quo aufgeben wollte und sich gleich die volle Dröhnung Stegi geben mit Übernachtung und Konzert und sentimentalen Momenten am Bahnhof, wie es sie in jeder zweiten FF gab.
„Tim?", fragte Stegi nach. „Hast du mir zugehört?"
„Äh", machte Tim. „Essen ist schon ein Stück von Köln weg, aber mit dem Auto geht das schon..."
Tim sagte meistens die Wahrheit, wenn er nicht wusste, ob es besser war zu flunkern oder nicht. Die Wahrheit konnte ihm immerhin im Nachhinein keiner vorwerfen.
„Willst du mit zum Konzert? Das, auf dem ich war, war wirklich super und ich färbe mir auch wieder die Haare, wenn du Angst hast, erkannt zu werden."
Stegi machte sich um Sachen Sorgen... Tim sah nach, wann und wo das Konzert war und las etwas von VIP. Es löste in ungutes Gefühl in ihm aus, wenn er daran dachte, daneben zu stehen, wenn Stegi Chrissy Costanza anherzte und sich am besten noch mit ihr unterhielt. (Er war nicht eifersüchtig und wenn nur darauf, dass Stegi so leicht ins Schwärmen geriet, während Tim es so schwer fiel, Menschen zu mögen.) „Willst du dann auch VIP kaufen?" Seine Stimme klang belegt. Er räusperte sich.
„Nee", meinte Stegi. „Ich kriege doch eh kein Wort raus, wenn ich mit Chrissy reden soll."
Tim musste leicht lächeln, weil Stegi eigentlich gar nicht so schüchtern war und nur bei hübschen Frauen damit anfing, es zu sein.
Er wusste immer noch nicht, ob er auf dieses Konzert wollte. Er mochte ATC. Ein bisschen. Das neue Album war ganz cool und die Sachen aus Spotify hörte er schon wegen Stegi ständig.
Er wollte Stegi nicht Chrissy fangirlen sehen. Aber gleichzeitig wollte er auch da sein, um genau das zu sehen, weil vielleicht ein wenig von Stegis Leichtigkeit auf ihn abfärben würde.
„Du musst nicht, wenn du nicht willst", meinte Stegi. „Ist okay. Ich wird Smurf fragen oder Tobi..."
„Nein, nein", fiel Tim ihm ins Wort. „Klar, ich hab nachgeschaut – ich hab da keine Klausuren, oder so. Natürlich kannst du herkommen und dann fahren wir zusammen zum Konzert."
Tim sagte das mit unbekümmerter Stimme, aber etwas in ihm zitterte und er fragte sich, ob es eine gute Idee war, konkret zu werden.
„Echt, Tim?", fragte Stegi begeistert und jubelte dann. „Oh, Tim, du bist der Beste!"
Tim schnaubte nur belustigt und fragte sich, warum er sich das antat.
Er öffnete seinen Terminkalender am Handy und sah nach, ob er tatsächlich keine Klausuren hatte – und trug das Konzert ein.
Nun gab es kein Zurück mehr.
Tim hatte vermutlich schon deutlich mehr Menschen getroffen, die er aus dem Internet kannte, als Stegi. Das hatte den einfachen Grund, dass er seine Timolianer auf der Gamescom zusammengetrommelt hatte und es keinen guten Grund gab, dort nicht auch Freddie, Rafael, Tobi und die anderen Leute aus der Minecraft-Szene zu treffen.
Es war ja auch gar nicht so, als wäre das etwas unglaublich Besonderes. Aufregend, ja. Aber genau das war ja der Reiz der Gamescom. Man traf Menschen, die das gleiche Hobby und die gleiche Leidenschaft fürs Gaming teilten und die sowohl von den Games als auch den anderen Gamern angelockt wurden.
Nachdem Tim die Jungs dort getroffen hatte, war es auch keine große Sache mehr, diejenigen von ihnen, die bei ihm in der Gegend wohnten, öfter mal zu sehen und je mehr Zeit er mit Freddie oder Tobi verbrachte, desto entspannter wurde es auch.
Aber Stegi. Stegi war ein anderes Kaliber.
Mit Freddie oder Tobi hatte er sich nie über wirklich private Dinge unterhalten. Er hatte mit ihnen auch noch keine mehrstündigen Unterhaltungen im TS verführt oder einen ganzen Tag lang WhatsApp-Nachrichten ausgetauscht.
Er hatte bei den beiden einfach nicht so viel zu verlieren wie bei Stegi.
Die Gefahr, dass die Beziehung, die nicht von Angesicht zu Angesicht aufgebaut wurde, irgendwie das überholte, was man demjenigen körperlich anwesend anvertrauen würde, war total surreal und dennoch... real für Tim.
Er hatte Angst, dass es komisch war. Er hatte Angst, dass es nicht komisch war.
Er hatte Angst, was passieren würde.
Aber gleichzeitig hasste er sich für diese Angst, weil er Stegi doch kannte. Er kannte ihn besser als jeden Menschen auf dieser Welt und er mochte ihn auch mehr als jeden Menschen auf dieser Welt.
Es war so falsch, Angst vor Stegi zu haben.
Vermutlich waren alle Menschen Kunstwerke. Sie hatten alle ihre Eigenarten, ihre Stärken und Schwächen, ihre schönen Seiten und kleine Makel. Irgendwo war jeder Mensch in sich schlüssig und ein kleines Meisterwerk der Natur, der Gesellschaft und seiner Erziehung und Bildung.
Jeder Mensch war ein Kunstwerk und jeden konnte man vermutlich sein Leben lang betrachten und beobachten, um das Konzept oder die Idee dahinter zu verstehen.
Vermutlich waren eigentlich alle Menschen interessant, so wie jede Art von Kunst.
Für Tim war Stegi genau so ein Kunstwerk.
Tim kannte Stegi wirklich gut. So viele Aspekte und Details kannte er, so viel von seiner Familie und von dem, was ihn zu dem gemacht hatte, was er war. So viele seiner Gedanken und Gefühle.
Und alles, was bei Stegis Besuch dazukam – alle kleinen Details, jedes Verziehen des Mundwinkels und Verdrehen der Augen – jede Geste und jedes Lachen... all das rutschte ohne Probleme in Tims Bild von Stegi und machte es kompletter.
Tim hatte ein wenig Angst gehabt, dass Stegi zu treffen, etwas kaputt machen könnte, aber tatsächlich machte es alles nur ein bisschen größer und bunter und wichtiger und leichter.
Es war nicht nur der Geruch, der bei einer Internetbekanntschaft fehlte (denn über den dachte man, auch wenn die Person neben einem saß, nicht besonders viel nach), sondern einfach das Gesicht, das sich zu einem Lachen verzieht und diese Perspektive, die man auf Fotos nie zu sehen bekommt.
(Stegi war kein Model, aber er war unfassbar schön.)
Tim hatte Recht behalten: Es war zuerst etwas komisch. Dieser Typ am Bahnhof, der nun Stegi war und kleiner als Tim und in Tims Vorstellung doch irgendwie immer genauso groß wie er selbst.
Es gab diesen kurzen Moment, in dem zwei junge Männer überlegen, wie sie sich begrüßen. Dieses ‚Bist-du-eine-Handschlag-oder-eine-umarm-und-auf-den-Rücken-klopf-Person?'-Fragen.
Aber Stegi umarmte ihn fest und ohne distanzschaffendes Rückenklopfen.
Er schloss an eine WhatsApp-Unterhaltung an, führte dieses Gespräch nahtlos weiter und die Varianten von Stegi rasteten ineinander und wurden ein Bild – das Bild, das Tim von nun an von Stegi haben würde.
Sie gingen was essen und redeten und lachten, als wäre alles wie immer und Tim verstand, dass ein ihm gegenüber sitzender Stegi zwar anders war – aber immer noch Stegi.
Die Gespräche waren ähnlich, der Humor der gleiche und die einzige Ergänzung war die Tatsache, dass Tim jede Geste und Mimik von Stegi sehen konnte (und vielleicht der Geruch, wenn auch nur unbewusst).
Stegi bezog die Gästematratze, die Tim sich von seiner Schwester extra geliehen hatte, damit Stegi weder auf der zu kurzen Couch, noch auf dem Boden, noch mit in Tims Bett schlafen musste und nachts lag Tim nur kurz wach und überlegte, ob ihn Stegis Anwesenheit nervös machte, aber eigentlich träumte er nur seltsames Zeug und sonst war alles wie immer.
Tim war von all dem sehr beruhigt – bis er mit Stegi auf das Konzert ging.
Ein Konzert ist eine Blase außerhalb der Realität. Fast ein bisschen wie das Internet oder wenn man sich ganz in einem Spiel verlor. Stegi war aufgeregt und auch ein wenig aufgedreht und grinste so breit, dass Tim seine Zähne hätte zählen können.
„Willst du nach vorn?", fragte Tim und Stegi schüttelte den Kopf. Er hatte sich die Haare schwarz getönt und sah damit schon wieder ein bisschen fremd aus. Sie holten sich jeweils ein Bier und warteten darauf, dass es anfing.
Es war eine kleine Halle und überall waren junge Menschen und fast alle hatten sie ihre Handys in den Händen.
Das Konzert begann und anders als auf großen Konzerten gab es keine Welle nach vorn. Es wurde eine Menge gefilmt und getanzt und mitgesungen und Tim stand ein bisschen unbeteiligt da, bis er Stegis Gesicht sah und dieses vor Glück fast übersprudelte.
Tim musste auch lächeln. Stegi sang lautstark mit, was über die ohrenbetäubenden Lautstärken aus den Lautsprechern nicht zu hören war und er starrte zu Chrissy nach vorn, die ordentlich abrockte und eine wirklich sympathische Frontfrau war.
Tim kannte fast alle Lieder, wippte ein bisschen auf seinem Platz hin und her, sang sehr leise ein paar Texte mit und nahm schließlich Stegi sein Handy ab, um für ihn über die Menge hinweg zu filmen und ein paar Fotos zu schießen.
Er wusste nicht, ob es die laute Musik war, diese Abschottung von der Realität oder einfach das Glück, das von Stegi auf ihn überschwappte: Aber Tim fühlte sich kribbelig und glücklich und ungewohnt leicht.
Er fühlte sich das erste Mal in seinem Leben doch irgendwie verliebt.
Das Gefühl hielt auch nach dem Konzert an, als Stegi leise Paralyzed singend zu Tim ins Auto stieg. Tim war hibbelig und er sah Stegi an, der das Lächeln gar nicht mehr aus dem Gesicht bekam.
„Wie kannst du auf die Frau nicht stehen?", fragte Stegi blöd grinsend und nahm sein Handy zur Hand, um die Bilder und Videos zu sichten.
Urplötzlich fiel Tim wieder ein, warum er sich nicht verlieben wollte.
Die Blase platzte und das Glück verschwand. Irgendwas in ihm verfestigte sich, wurde kalt und starr. Vielleicht war es Angst. Vielleicht aber auch Gewissheit, wie verletzend Hoffnung war.
„Ich steh auf ihre Musik", sagte er diplomatisch und ließ das Auto an. „Reicht doch."
Stegis Besuch ging ereignislos zuende. Sie futterten Pizza und zockten und Tim gab sich große Mühe, Stegi nicht zu viel anzusehen. Er gab sich Mühe, Stegi als den Kumpel zu sehen, der er doch war. Als seinen besten Freund.
Sie funktionierten so gut als Freunde. Sie konnten miteinander rumalbern und Musik hören und schief mitsingen. Sie konnten sich über alberne und ernste Themen unterhalten.
Eigentlich war es eine schöne Zeit. Meistens.
Stegi schwärmte von Chrissy und erzählte von seinem Studium und redete wirklich viel, als hätte ihm das Konzert einen Energieschub gegeben. Tim dagegen fühlte sich seltsam ausgelaugt. Stegi fragte ihn, ob er auf dem Konzert nicht hübsche Mädchen gesehen hatte, wenn er schon Chrissy nicht gut fand.
Tim war froh, als der Zug, in dem Stegi saß, den Bahnhof verließ.
Da war wieder ihr Status Quo. Es hatte sich nichts so wirklich verändert.
Selbstverständlich war Tim nicht verliebt. Stegi war sein bester Freund.
Es war alles gut so wie es war.Have you had a million reasons
why you wish you'd never seen the truth?
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Hearts [Stexpert]
FanfictionEach heart is a paper kite blown around by the breeze | [Stexpert | Shortfic | Nicht-so-richtig-Songfic-aber-von-Songs-inspiriert | Abgeschlossen] Tim erklärt Stegi, er würde sich niemals verlieben. Aber kann das denn stimmen? Und warum sollte sich...