Teil 4

86 11 0
                                    


Er fand John hinter der nächsten Hausecke.
Der kleine Hund wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, als er seinen Freund, den Kater kommen sah.
„Sherlock! Sherlock!", bellte er, „hast du etwas herausgefunden?"
„Jawn, sei doch leise. Nicht, dass sie uns noch von hier verjagen. Du weißt doch, wie die Menschen sind."
John schaute schuldbewusst drein und fiepte leise.
„Schon gut", maunzte Sherlock. „Komm."
Und er lief voran, ein paar Straßenecken weiter.

„Also John, viel habe ich nicht gefunden. Nur, dass ein Koffer fehlt. Sie muss einen gehabt haben, aber der ist nicht da. Und sie war über Nacht nicht in London. Hast du dazu irgendetwas von Harriet gehört?"
Der Welpe nickte eifrig.
„Ja, Sherlock. Die Frau ist die Mama von Clara, Harriets bester Freundin. Und sie arbeitet bei einem Hersteller von Tierfutter. Als Vertreterin." John leckte sich über die Schnauze.
Sherlock schmunzelte. John war schon ein niedlicher kleiner Kerl.

„Na ja, und deswegen ist sie immer mal wieder auf Reisen. Gestern ist sie wohl nach Cardiff gefahren. Und sollte heute zurückkommen.
Und dann haben Teenager sie in dem leeren Haus gefunden. Und nun ist Clara ganz verzweifelt. Und Harry ist traurig, und das mag ich nicht."
John ließ die Ohren hängen. Man sah ihm an, dass er mit seinem Frauchen litt. Er hatte einfach ein gutes Herz.
Sherlock schluckte. Für ihn war das ganze bis eben noch einfach ein interessantes Rätsel gewesen. Nicht mehr und nicht weniger.
Aber jetzt, wo er seinen Freund so vor sich sitzen sah, mit hängenden Öhrchen und eingezogenem Schwanz, da wurde ihm bewusst, dass es um weit mehr ging. Und entgegen seiner Gewohnheit, alles mit einer gewissen Arroganz und vor allem Distanz zu betrachten, begann er, Mitleid zu fühlen. Das war neu und ungewohnt, aber irgendwie mochte er es. Es bescherte ihm eine Wärme im Herzen, die er so noch nicht kannte.
'John, du verweichlichst mich', dachte er, aber im nächsten Moment schüttelte er über sich selber den Kopf. 'Ach was. Eigentlich macht es mich nur ... nun ... umgänglicher. Und wer weiß, wozu das noch mal gut ist.'
Er seufzte und schleckte nun seinem Freund sanft über die Schnauze.

Johns Schwanz begann wieder, auf den Boden zu klopfen. Johns frohes Gemüt war eben nicht so schnell klein zu kriegen.
„Na ja", bellte er leise, „und da dachte ich, wenn du dich der Sache annimmst, und herausfindest, was los ist, und wer das getan hat, dann gibt das Clara zwar auch nicht die Mama zurück", er seufzte, „aber vielleicht ist es für sie dann leichter zu verkraften, weißt du?"
Sherlock nickte und schmunzelte.
„Und für Harriet auch, nicht wahr, Jawn?"
John nickte.
„Ja, für Harriet auch."

„Nun, wie auch immer", fuhr Sherlock fort, „Sie muss einen Koffer bei sich gehabt haben. Und er ist nicht da. Wir müssen ihn finden."
„Aber", wandte John ein, „sie wohnt doch in der Nähe. Zwei Straßen weiter. Vielleicht hat sie ihn erst nach Hause gebracht."
Der Blick, mit dem der Kater den Welpen bedachte, ließ diesen vor Scham fast in den Boden versinken. Ein ohne Worte überdeutlich ausgesprochenes: „Also bitte, John!"
John winselte.
„Nein", sagte Sherlock und bemühte sich, geduldig zu klingen.
„Sie hatte einen nassen Mantel an, schmutzbespritzte Strümpfe und an ihrer rechten Hand war der Nagellack gesplittert. Eine durchgestylte Frau wie sie hätte das gerichtet, wenn sie erst zu Hause gewesen wäre. Und wenn dafür keine Zeit gewesen wäre, hätte sie zumindest den nassen Mantel gewechselt."

„Dann lass uns den Koffer suchen", bellte John eifrig.
„Ja", maunzte Sherlock. „Du kannst um das Haus herum suchen. Aber bleibe bitte unauffällig. Ich selber werde die Mülltonnen in der Nähe absuchen."
Mülltonnen. Allein bei dem Gedanken schauderte ihn. Aber er musste das selbst übernehmen, und konnte nicht John darum bitten, allein weil der nicht gut klettern konnte.
Sherlock seufzte. Es würde sich vermutlich nicht vermeiden lassen, sich das Fell zu beschmutzen. Aber Mycroft würde sich um ihn kümmern.

Alle paar Monate kam der ohnehin auf die Idee, seinen Kater zu baden, und im Gegensatz zu den meisten anderen Katzen genoss Sherlock das. Wenn warmes Wasser und zarter Schaum in seinem Fell verteilt wurden, fand er das sehr angenehm. Mycroft war achtsam und sorgte dafür, dass nichts in die Augen oder die empfindliche Nase geriet. Hinterher rubbelte er ihn mit einem weichen Handtuch trocken und bürstete ihm sein Fell.
Der Gedanke daran ließ Sherlock schnurren und ließ ihn auch den Gedanken an Mülltonnen ertragen.

„Gut", bellte John. „Ich werde mein bestes geben. Treffen wir uns wieder hier?"
„Ja", sagte Sherlock, und schaute zur Uhr an der gegenüberliegenden Bushaltestelle, „in zwei Stunden."
John warf ihm eine fragenden Blick zu.
Ach ja, der konnte mit den Zeitangaben der Menschen nichts anfangen. Er, Sherlock, hatte das von Mycroft gelernt.
Er überlegte fieberhaft.
„Also, John, wenn ... ähm ... wenn Mr. Perrish seinen Wagen in die Auffahrt fährt."
John strahlte. Ja, das konnte er einordnen. Mr. Perrish, ein Büroangestellter mit Job in der City, kam jeden Tag zur selben Zeit von der Arbeit.

Sherlock streckte sich. Ach ja, manchmal hatte man es mit all den Idioten um sich herum nicht leicht. Nun, er meinte das Wort „Idiot" gar nicht mal böse; es war einfach so, dass alle anderen lange nicht so intelligent waren wie er und teilweise die einfachsten Dinge nicht sahen. Selbst Mycroft konnte hin und wieder so begriffsstutzig sein.

„Also nun los! Bis später, mein Assistent!", maunzte er und schaute schmunzelnd zu, wie sein Freund schwanzwedelnd vor Freude und vor Stolz über die eigene Wichtigkeit auf das Haus zu lief.
Er selber machte sich auch auf den Weg.
Es gab viel zu tun.

Wie Hund und KatzeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt