Kapitel 2

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Seit siebzehn Tagen hatte Alestra keine Gesichter mehr gesehen außer dem des einen, den sie geheilt hatte und ihrem eigenen. Normalerweise waren sie nie alleine, normalerweise hatten sie eine Familie, die ihnen beistand, während sie meist um ihr Leben kämpften. Aber dieser Kriegsveteran lebte alleine auf einem kleinen Hof, der so weit abseits von der nächsten Stadt im Königreich Perithiel lag, dass die meisten der Heilerinnen einen solchen Weg nicht auf sich genommen hätten, aber die Meisterin ihrer Heilergilde hatte sie beauftragt und Alestra war mehr als dankbar gewesen. Und jetzt nach siebzehn Tagen war sie wieder zurück bei den Thironaar, zurück aus der Freiheit und offenbar war sie nicht die einzige, die in diesem Moment von ihrem Auftrag zurückkehrte. Das Haupthaus der Gilde mit seinem kleinen Turm, der sich zwischen die Bäume geschmiegt in die Höhe schraubte, schob sich wieder in Alestras Blickfeld und die friedvolle Stille des Waldes wurde von der von Wiedersehensfreude getränkten Geräuschkulisse verdrängt.

Eine Gruppe von jungen Frauen, die in etwa in Alestras Alter sein mussten, saß auf dem alten, umgestürzten Baumstamm um eine weitere Heilerin mit kastanienbraunem Haar herum und hing ihr förmlich an den Lippen, als diese ihnen voller Euphorie etwas erzählte. Alestras Blick wanderte zu der Wildrosenhecke, die aus dem Baumstamm heraus zu wachsen schien und den zierlichen Blüten, die immer das Licht des Mondes eingefangen hatten. Es schnürte Alestra die Kehle zu und nahm ihr die Luft zum Atmen. Ein Schauer überlief sie. Ashlynn. Früher hatte sie dort gestanden und auf Alestra gewartet. Auf dem Stamm hatte Ashlynn gesessen und war aufgesprungen, kaum dass sie sie gesehen hatte, während sie ihre verkrampften Hände aus ihrem Rock gelöst hatte. Kein Kratzer war ihr entgangen, als sie Alestra von oben bis unten gemustert hatte und fast noch in ihrer herzlichen Umarmung hatte sie sie zu dem kleinen Waldsee gezerrt, um die Wunden zu reinigen. Heute stand niemand dort. Nur die Gruppe hatte in ihrem Gespräch innegehalten und schenkte Alestra einen misstrauischen Blick. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie stehen geblieben war, aber wie sehr hatte sie diese Blicke doch vermisst.

Alestra schaute nicht zurück, als sie über das Nadelbett, vorbei an weiteren Grüppchen und hektischen Heilerinnen lief. Sie wagte es nicht, den Blick von ihrem Ziel abschweifen zu lassen, nicht zu dem Brunnen rechts von ihr, um den sich das Efeu rankte, nicht zu der kleinen Mauer mit dem Tor, das zu den weitläufigen Kräutergärten zu ihrer Linken führte und nicht zum Haupthaus selbst. Stattdessen schlug sie den Pfad ein, der an diesem vorbei zu den dahinterliegenden Gebäuden führte, in denen die Heilerinnen selbst untergebracht waren. Sie musste dringend ihre schmutzigen Kleider loswerden und das restliche Blut von ihren Beinen waschen, ehe jemand Fragen stellte. Ihr Ärmel war unter eine Rockfalte gewandert und so gut wie nicht mehr sichtbar.

Alestra atmete auf, als sie endlich an den kleinen Grüppchen vorbei war. Die Freude über das Wiedersehen der anderen lag wie eine Aschewolke in der Luft und begleitete sie auf ihrem Weg zu dem kleinen Haus, in dem ihr Zimmer auf sie wartete. Vertraut knarzten die Stufen der schmalen Treppe, die sich außen um die zwei Stockwerke des Gebäudes wand, als Alestra nach oben stieg, vorbei an den Fenstern, durch die man in die kleine Küche sehen konnte, und schließlich durch die von den Unwettern gezeichnete Tür mit den Eisenbeschlägen hindurch bis ihr Weg in dem kleinen Korridor endete. Alestras Hand zitterte, als sie die Tür zu ihrem Zimmer aufstieß. Sie war wieder zurück, dort, wo sie nun einmal war, weil ihre Eltern es gewollt hatten, aber wo sie niemand wollte. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihrem Herzen breit. Sie hätte nicht zurückkommen müssen, sie hätte als Preis kein Geld oder Informationen verlangen müssen, sondern einen Platz, an dem sie vorerst bleiben konnte, aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte es nicht gewollt. Eine triste Leere schlug ihr entgegen, als die Tür aufschwang. Das war also der Ort, nach dem sie sich gesehnt hatte, ein Ort voller Leere, zumindest ohne Wärme. Es hätte das Zimmer einer jeden anderen Heilerin sein können. Nichts wies darauf hin, dass sie hier wohnte. Es war das schlichte Bettgestell wie in jedem anderen Zimmer auch, es war der gleiche Tisch in der kleinen Nische vor dem Fenster, die gleiche Truhe. In zwei Schritten hatte Alestra den Raum durchquert und ließ ihre Tasche auf den Tisch gleiten, sodass die Phiolen aneinander klirrten. Sie wusste, dass eigentlich die Heilerinnen in den Katakomben warteten, doch die konnten sicherlich noch ein paar Minuten länger warten. Ihre Finger wanderten über das geschmeidige Holz des Bogens. Heute, wenn die Abendröte ihre glühenden Fäden in die Decke des Himmels einweben würde, würde er wieder in ihrer Hand liegen und er würde ächzen, wenn sie ihre Pfeile freigab. Ein Lächeln stahl sich auf Alestras Gesicht. Heute Abend würde sie wieder mit den Schatten verschmelzen und sich einfach in ihnen verlieren und tun können, was sie liebte.

Eine halbe Stunde später waren ihre eigenen Phiolen und Tiegel wieder im Regal über der Truhe verstaut bei den restlichen Bündeln getrockneter Kräuter und der Lederriemen ihrer Tasche, die nun erheblich leichter war, lag wieder über ihrer Schulter. Auch ihr Kleid hatte sie gewechselt und in ein blassblaues, das ihre Augen betonte, eingetauscht, nachdem sie sich mit ein paar feuchten Tüchern das Blut abgewischt hatte. Sie hatte die Katakomben lange genug warten lassen. Die Heilerinnen dort gaben ihre Heilmittel nicht an jeden heraus und schon gar nicht gestatteten sie es, diese auch nur einen Tag länger als benötigt zu behalten. Und so forderten sie auch ihre zermahlene Samolus zurück, die Sommerblume, die dem Verletzten das Leben gerettet hatte. Die Schussverletzung in seiner Ferse war verheerend gewesen. Alestra hatte noch immer das Bild der Wunde vor Augen, von der feine schwarze Striemen wie ein Spinnennetz ausgingen. Der Mann hatte sie gebeten niemandem von der vergifteten Pfeispitze zu erzählen, die er sich vor Alestras Ankunft selbst aus der Ferse hatte ziehen müssen, anders hätte er nicht überlebt. Nachtschattengifte waren zu tödlich und der Pfeil war so raffiniert gefertigt worden, dass er über schmale Rinnen weiteres Gift aus dem Schaft in die Wunde leitete. Bis heute wusste Alestra nicht, wem eine solche Kunst zuzuschreiben war, doch die Zeichnung dieses Pfeils ruhte noch immer zwischen den Seiten des kleinen Buches, über dessen ledernen Einband nun die Hand in ihrer Tasche strich.

Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt