Kapitel 8

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Ihre Stimme klang als würde sie von fern an ihr Ohr dringen. „Es ist kein Vorwand nötig, um mich zu ihr zu bringen. Ich weiß, dass sie mich rufen ließ." Und das war es, was sie beunruhigte. Kaum war sie wieder da, schickte die oberste Heilerin nach ihr. Das war mehr als ungewöhnlich.

„Gewiss, Alestra, nach Euch." Mit diesen Worten beschrieb die Schamanin eine ausladende Geste in Richtung des Bogens, durch den sie gekommen war. Alestra hatte diesen Raum erst einige wenige Male betreten und das lag schon Jahre zurück. Damals war sie noch so klein und verwegen gewesen, aber keineswegs naiv. Sie hatte niemandem glauben wollen, dass ihre Eltern verschwunden waren und sie auf unglückliche Weise im Stich gelassen hatten. Und in den Nächten, in denen sie sich nicht mehr getraut hatte zu weinen, war sie aus dem Schlafraum geschlichen und war gehüllt in ihre Schatten in dieses Zimmer eingebrochen, um nach irgendetwas zu suchen, was ihr versicherte, dass alles eine Lüge war. Auch wenn ihr letzter Schritt über diese Schwelle ebenfalls ein paar Jahre zurücklag, so erinnerte sie sich noch genau daran, wie dieser Raum ausgesehen hatte.
Das Licht der sich herabsenkenden Sonne, das durch die gläsernen Scheiben ins Zimmer fiel, blendete Alestra, als sie durch den Bogen schritt. Es ließ die Person, die mit dem Rücken zu ihnen gekehrt vor dem Fenster hinter dem schweren Schreibtisch stand, wie eine Lichtgestalt wirken, so rein, dass die Dunkelheit sie nicht einmal berühren konnte. Doch Alestra wusste, dass sie alles war, aber keine Lichtgestalt. Keine von diesen konnte so kalt über die Leben von anderen Wesen entscheiden und Entscheidungen fällen, die andere notgedrungen zu Schaden kommen ließen. Das weiße Haar floss ihr in Wellen den Rücken hinab und bildete einen starken Kontrast zu dem dunklen Gewand, das sie trug. Wie lange hatte sie sie nun schon nicht mehr gesehen? Es mussten Wochen sein, denn gerade in letzter Zeit ließ sie sich noch seltener blicken. Die Meisterin musste bemerkt haben, dass Alestras Blick sie fast zu durchdringen schien, so krampfhaft versuchte sie noch immer hinter diese Fassade blicken zu wollen, auch wenn sie sich das nur schwer eingestehen konnte. In einer schnellen Bewegung wandte sie sich zu Alestra um und blickte ihr direkt in die Augen. Ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das ihr Gesicht beinahe zu entstellen schien, als wäre es vor langer Zeit eingefroren worden war. Es war nicht mehr gewohnt ihre grauen, mit Kohle umrandeten Augen zu erreichen. „Es freut mich dich in so guter Verfassung zu sehen, Alestra. Es gibt einiges zu bereden, wie du dir vielleicht denken kannst. Setz dich doch bitte!", sagte sie mit einem Wink ihrer Hand. Alestra tat sich schwer damit, sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen, als ihre Augen nach einem Stuhl suchten. Sie wollte gerade zu einem Satz ansetzen, als sich neben einer Truhe ein aufwändig geschnitzter Schemel in die Luft erhob und auf sie zu schwebte. Ohne ein Wort ließ Alestra sich, kaum dass er den Boden erreicht hatte, auf ihm nieder, denn alles Weitere, was seinen Weg über ihre Lippen gefunden hätte, wäre sinnloses Gestammel gewesen. Keine Heilerin hier war der Magie mächtig außer der Schamanin und sie selbst, aber es war verpönt mit herkömmlicher Magie zu heilen, denn diese wohnte allein den Kräutern und Fertigkeiten der Heilerin inne.

Die Meisterin wandte den Blick nicht von ihren Fingerspitzen, als sie mit gesenkter Stimme sagte: „Du begehrst es zu erfahren, nicht wahr? Wie es sein kann, dass mit einem Mal die Magie Einzug erhalten hat? Es gibt hier keinen Platz für sie, Alestra, und trotzdem ist sie hier. Keine Sorge, du wirst es bald erfahren, wenn du ein wenig Geduld hast."
Langsamen Schrittes kam sie auf Alestra zu, die gar nicht bemerkt hatte, dass ihr die Luft weggeblieben war. Obwohl kein Wind durch die Fenster gezogen war, umspielte das in erdtönen gehaltene Kleid, das nur mit einem Gürtel gehalten war, ihre schmale Gestalt. Ihre Bewegungen waren die einer Königin und doch waren sie nicht so elegant, sondern schnell und geschmeidig wie die einer Kriegerin. Das hier war ihr Königreich und sie gebot über alle in dieser Gilde. Mit einem Nicken gab sie der Schamanin, die im Bogen hinter Alestra stehen geblieben war, zu verstehen, dass sie nun den Raum zu verlassen hatte. Alestra hatte fast vergessen, dass sie bis eben noch dort gestanden hatte und es verunsicherte sie seltsamerweise mit der Meisterin alleine zu sein. Es musste einen Grund haben, dass sie keine Wachen um sich herumhatte, wohin sie auch ging. Hier in diesem kleinen Raum konnte man dieser Frau so schnell etwas antun, aber das hatte niemals jemand gewagt und würde wohl auch niemand je wagen. Unantastbar.

Als sie verschwunden war, ließ sich die oberste Heilerin auf dem Stuhl hinter ihrem Tisch nieder und forderte mit einem Blick den Blätterstapel, der auf Alestras Schoß ruhte, ein. „Ja, August Brandon Jlyrr, der Arme. Er muss noch immer von den schrecklichen Erinnerungen an den Krieg geplagt sein. In dem Dorf, in dem er früher gewohnt hatte, war sich jeder sicher, dass er der erste Jüngling war, der auszog, um in seiner Unvernunft seine große Liebe irgendwo in einer fernen Stadt zu finden. Er hatte das Abenteuer gesucht und gefunden hatte ihn der Krieg. Ich hätte ihm eine Familie gewünscht. Aber wie es aussieht, ist er nie über den Krieg hinweggekommen und hat sich von der Welt abgeschottet. Ich hoffe doch, dass Ihr ihm das Leben, so gut es ging, erleichtern konntet mit der Heilung seiner Verletzung, Alestra."

„Natürlich, er ist wieder wohlauf und muss sich nur noch etwas schonen. Er wird keinen Schaden davontragen. Erlaubt mir eine Frage: Kanntet Ihr ihn persönlich? Ich meine, so wie Ihr von ihm sprecht, müsst ihr ihn doch gekannt haben." Im gleichen Moment biss sich Alestra auf die Lippe. So indiskret konnte sie doch nicht die oberste Heilerin ansprechen.

„Ich habe ihn in der Tat gekannt, aber das ist schon Jahrzehnte her. Ich werde ihm eine unserer Pflegerinnen schicken, damit sie sich um ihn kümmern kann. Etwas Gesellschaft wird ihm nicht schaden und ich bezweifle, dass er sich in einer ähnlichen Situation nochmal so schnell selbst helfen kann. Ich werde mir jedenfalls deinen Bericht ansehen und schauen, wie wir an dieser Stelle weiter verfahren, aber das sollte dann nicht mehr dein Problem sein. Für dich gibt es etwas anderes zu tun." Das war also der Grund dafür, dass Alestra nun in diesem Raum saß, der ihr trotz der hohen Decke auf einmal viel zu beengend erschien.

Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt