Kapitel 4

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Es war zu kurz, um zu sehen, wie schwerwiegend die Verletzung war, doch Melissa schien es nur darauf anzukommen, dass es niemand bemerkte, anscheinend schon gar nicht Alestra selbst. Seltsamerweise. Alestra schaute ihr direkt in die Augen und sie war sich sicher, dass ihr nächster Satz kein bisschen Wahrheit in sich tragen würde.

„Was soll denn sein? Ich war nur auf dem Weg hierher, um mich für meinen nächsten Auftrag zu rüsten. Ich werde ich zwei Tagen abreisen und habe noch einiges bis dahin zu erledigen", sagte sie und tat einen Schritt auf sie zu, um an ihr vorbeizugehen, doch Alestra war schneller. Auf einmal stöhnte Melissa auf und krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen, denn Alestra hatte einfach ihren Arm ausgestreckt und sie am Vorbeigehen gehindert. Natürlich ganz ohne Absicht und Vorahnung, dass sie Melissas Wunde treffen würde, wenn diese gegen ihren Arm lief. Ganz unvermittelt legte Alestra einen Arm um die Schultern des Mädchens und versuchte sie vor den Blicken der anderen zu schützen. Mit einem Blick auf ihre zitternde Hand, mit der sie sich wieder die Seite hielt sagte Alestra: „Du bist leider eine grauenvolle Lügnerin. Ich werde dir jetzt helfen und dich mit zu mir nehmen. Und dann solltest du mir wirklich die Wahrheit erzählen."

Melissas fassungsloser Blick, in den sich nun aber auch etwas Erstaunen geschlichen hatte, wanderte zu ihr. „Was bitte sollte das denn gerade? Außerdem habe ich dich nicht einmal richtig angelogen und ich werde dir gar nichts erzählen. Was denn auch? Du könntest dich doch einfach entschuldigen, so wie ich und das Ganze vergessen. Ich komme, denke ich, sehr gut alleine zurecht."

Das sah Alestra völlig anders. Dieses Mädchen wollte hier unten alles, aber sich sicher nicht für einen Auftrag ausstatten. Sie wollte sich selbst helfen und das möglichst ohne, dass jemand davon Wind bekam. Es war eine denkbar schlechte Idee, Heilmittel unter einem falschen Vorwand zu verlangen. Wenn, dann bräuchte man eine ausgefeilte Strategie und Alestra war bereits so oft zwischen den feuchten Wänden in die Gewölbe hinabgestiegen, um immer eine im Hinterkopf zu haben. Melissa hatte keine solche gehabt. Alestra wusste nur zu gut, wie Melissa sich fühlte. Sie ließ unauffällig ihren Blick zu beiden Seiten schweifen, wo die Heilerinnen immer noch geschäftig hinter ihren Tischen standen und an ihren Mixturen werkelten. Ein letzter Blick zu der Heilerin, der sie vorhin die Kräuter zurückgebracht hatte, verriet ihr, dass in dem riesigen Gewölbe wirklich niemand etwas bemerkt zu haben schien und sie senkte ihre Stimme: „Du solltest dich glücklich schätzen, dass ich es bemerkt habe und keine von ihnen. Ich hoffe für dich, dass noch keine der Heilerinnen von deinem vermeintlichen Ausflug weiß, sonst wirst du in Schwierigkeiten kommen, aus denen nur du dich retten kannst und ich bezweifele, dass du momentan dazu in der Lage bist." Melissa wollte schon wieder für eine Antwort Luft holen, doch ein einziger Blick von Alestra brachte sie zum Schweigen.

Plötzlich sah Alestra ein anderes Gewölbe vor sich, eines, das noch nicht so viele Jahre gesehen hatte, wie das, in dem sie eben noch gestanden hatte. Als sie wieder zu der Heilerin mit den rotblonden Haaren sah, hatten sich die grauen Strähnen verflüchtigt und auch die Falten zogen nicht mehr so tiefe Furchen in ihr Gesicht. Doch in ihren Augen glitzerte eine unbändige Wut und sie starrte Alestra direkt an. Ihr galt der Zorn und sie wusste genau, warum. Sie sah zu der Phiole mit der bläulich schimmernde Flüssigkeit darin in ihrer Hand, die auf einmal viel zu klein und zierlich war. Es war die Hand eines Kindes. Des Kindes, das sie vor über zehn Jahren gewesen war. Doch trotzdem bemühte sie sich um eine ausdruckslose Miene. Hier half es überhaupt nichts ein unschuldiges und liebreizendes Gesicht aufzusetzen. Alestra wusste, wenn sie sich beeilen würde, würde sie rechtzeitig auf Ashlynn treffen und sie könnten in die Wälder fliehen. Sie konnte es schaffen. Sie würde Ashlynn helfen können.

Doch Alestra hatte es nie geschafft.

Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sie losgelaufen war, noch immer einen Arm um Melissas Schulter gelegt und ihre Augen waren wieder die ihres heutigen Ichs. Sie hatte sie starr auf die Treppe gerichtet, die am Ende der Reihen von Tischen wieder hinauf ins Licht führte.

„Alestra, warum tust du das? Ich sagte doch, dass ich alleine zurechtkomme." Melissas Stimme klang nun nicht mehr ganz so vorwurfsvoll wie ein paar Augenblicke zuvor, doch in ihr lagen noch immer Zweifel, gerade über Alestras Beweggründe. Über diese war sie sich nicht einmal selbst im Klaren. Dennoch beschloss Alestra, das Naheliegende auszusprechen: „Ich war einmal in einer ähnlichen Situation. Damals hätte ich mir gewünscht, jemand würde mir helfen. Und jetzt komm, sonst hat das hier keinen Sinn!" Erst als sich diese Worte auf ihre Zunge gestohlen hatten, war ihr bewusst geworden, dass es genau das war, was sie sich gewünscht hätte. Dafür war es jetzt zu spät.

Das Licht blendete sie, als sie die letzten glitschigen Stufen hinter sich ließen und Alestra atmete die klare Luft ein, in die sich der Duft der Kräuter geschlichen hatte. Der Kräutergarten hinter den Säulen lag noch immer genauso still da wie vorhin. Nur das Rascheln der Blätter, die im aufziehenden Wind tanzten, ließ Alestra wissen, dass sie nicht nur in einem verzauberten Gemälde standen. Doch die Zeit verwehrte ihr einen Augenblick der Ruhe und zog sie an ihren Kleidern in Richtung Tor. Als sie schließlich über die Trampelpfade zu dem kleinen Gebäude gingen, überkam sie plötzlich ein Schauer von eisiger Kälte, die langsam über ihren Rücken kroch. So langsam, als würde sie jeden Moment des Schmerzes, den sie verursachte, genießen. Es war nur ein winziger Bruchteil einer Sekunde, in der es geschah, doch Alestras Sinne wollten sie warnen, sicher sein, dass sie es spürte und ließen ihn ewig erscheinen. Ihr Blick huschte zu dem Gestrüpp, das sich hinter dem Haupthaus ausgebreitet hatte und die wilde Schönheit der Glyzinen gebar. Die Schatten fühlten sich zu Alestra hingezogen und keiner entkam ihren Augen. Schon gar nicht der, der seine Deckung hinter den Gebüschen suchte. Ihr Blick schoss zu Melissa, die sich mittlerweile an Alestras Schulter festgekrallt hatte, sodass ihre Nägel sich in diese bohren wollten. Wie konnte es nur sein, dass niemand ihn bemerkte? Und da wusste sie, dass er noch immer in den Wäldern umherschlich. Ihr Verfolger hatte seine Fährte wieder aufgenommen.

Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt