Kapitel 14

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Alestra hatte keine Ahnung, was sie Melissa sagen sollte, wenn sie aufwachte. Sie rechnete bereits mit dem Schlimmsten, dass Melissa aufwachen und sie sie, nun wieder bei Kräften, entweder anschreien oder einfach aus dem Zimmer fliehen würde. Daran musste Alestra sie unbedingt hindern. Seit sie wusste, welche Gefahr es mit sich brachte ein Wesen zu sein, das die Menschen auf einem Kontinent, der von Licht durchflutet wurde, hassten und verabscheuten oder es gar fürchteten, konnte sie keinen Augenblick mehr riskieren, den sie nicht vorausplanen und steuern konnte. Alestra war dies leid, genauso wie die eiskalte Maske, die sie sich seitdem aufgesetzt hatte in der Hoffnung sie würde sie schützen, auch wenn es seinen Preis hatte. Dieses kalte Geschöpf, das sich von jedem angegriffen fühlte und das sich zur Wehr setzte, das war nicht sie. Doch vor jemandem wie der Meisterin durfte sie einfach keine Schwäche zeigen, auch wenn diese Stärke nur eine Farce war.

Mittlerweile war die Sonne in ihren Schlaf gesunken und hatte der Dunkelheit die Herrschaft über die Welt übergeben. Irgendwo da draußen in den Städten zündeten die Menschen Fackeln und Kerzen an, um die Finsternis zu vertreiben und ihr Einhalt zu gebieten, dabei war sie doch etwas Wundervolles und auch sie hatte ein Recht dazu ihre Herrschaft einzufordern. Alestra brauchte kein Licht, um ihren Weg zwischen den Bäumen hindurch zu finden. Es war wie ein Lockruf der Schatten, der sie sicher auf ihrem Pfad lenkte und ihr den Weg zu ihrem Ziel bahnte: Zu den Gärten, in denen die Nachtschattengewächse die Erde weihten. Anders als in den Gärten nahe der Katakomben, die in einer fast schon fanatischen Sorgfalt angelegt worden waren, gediehen hier eingerahmt von Steinen zwischen Wildkraut und den Wurzeln der Bäume in einer wilden Schönheit die Gewächse der Nacht. Der Anblick der feingliedrigen Blätter und Blüten, die von einer Aura aus Dunkelheit umgeben waren, ließ Alestras Herz aufgehen. Es war einer dieser seltenen Augenblicke, in denen die Einsamkeit wich und einem wohligen Schauer Platz machte, der ihr das Gefühl gab, dass sie zwischen all den Menschen nicht allein war. Und dabei waren es nur Gewächse. Alestra wollte nicht hinterfragen, wie es sein konnte, dass ihr diese bloße Existenz ein bisschen Wärme in ihrem Herzen schenken konnte. Sie kniete nieder und ließ ihre langen dünnen Finger, die im Licht der zunehmenden Mondsichel noch bleicher wirkten, über die silbrig schimmernden Blätter streichen. Die Gefahr und der Tod waren in diesem Garten so nah. In keinem anderen der Gärten wuchs das Gift förmlich aus der Erde und formte seine trügerisch schöne Gestalt. Alestra riss eines der Blätter ab. Der milchige Saft rann ihr über die Finger und hinterließ eine blasse Spur, bevor er sich in der Kuhle, die ihre Hand bildete, sammelte. Es war ein tödliches Gift, was die Dunkelknolle absonderte und was nun ihre Hand hinab tropfte. Und es hatte etwas Reizvolles, etwas Faszinierendes an sich, einer Substanz so nahe zu sein, die so viel zerstören konnte, wenn man nur wusste wie. Ganz langsam wurde Alestras Haut von einer stechenden Kälte überzogen, als der Saft trocknete. Eine Heilerin zu sein bedeutete die Verantwortung für das Leben eines anderen zu haben, Leben zu bringen, doch das Wissen einer Heilerin war in den falschen Händen eine viel größere Waffe. Oder eine äußerst effektive Verteidigung. Darauf musste sie auf ihrer Reise achten, denn keine Gottheit konnte ihr die Gewissheit geben, wie vielen Wesen sie begegnen würde, die sie ausschalten wollen würden, wenn sie dahinterkämen, was sie war. Und das Letzte, was Alestra wollte, war, ihnen wehrlos ausgeliefert sein zu müssen. Das, was ihr hier zu Füßen lag, diese Pracht des sich im Zwielicht rankenden Kraut, war es, was es endlich schaffte, dass sie sich ein bisschen entspannte. Und, bei allen Nächten dieser Welt, sie lobte diesen Ort dafür, dass er ihre Kraftoase war, der einzige Ort, an dem sie sich nicht ständig beobachtet, sondern unter Ihresgleichen fühlte. Geschöpfe der Nacht, auch wenn es lediglich ein paar Pflanzen waren.

Alestra hatte sich bis jetzt nicht getraut das zusammengerollte Pergament hervorzuholen, auf dem das nun fast schon bedrohlich wirkende Siegel der Meisterin prangte. Gerade als sie den Pfad einschlagen hatte wollen, der sich bis zu diesem abseits gelegenen Garten der Nachtschatten schlängelte, war sie von einer anderen Heilerin aufgehalten worden, die ihr wortlos das Stück Pergament hingereicht hatte mit einer Miene, die nicht einmal ansatzweise erahnen lassen konnte, was sich dahinter für Gedanken abspielten. Es sollte ihr egal sein, sie nicht interessieren. Doch das war es nicht. Auch wenn diese Frau, die gewiss wesentlich mehr Mondzyklen als sie gesehen hatte, einen ganzen Kopf kleiner war als sie selbst, hatte sie herrisch auf Alestra herabgesehen. So war es meistens der Fall, denn trotz ihrer langen Zeit in der Gilde war Alestra dem größten Teil der Heilerinnen untergeben und sie konnte nur ansatzweise hoffen, dass ihr dieser Auftrag mehr Ansehen unter den anderen verschaffen würde. 

Sie war nun Teil von etwas Größerem und etwas, dem alle Eingeweihten eine schicksalsträchtige Bedeutung zumaßen. Sie stand nun im Mittelpunkt dieser Unternehmung und das, wo sie doch alles tat, um solche Geschehen verborgen aus der dritten Reihe zu beobachten, damit nicht sie selbst Gefahr lief in den Kreis aus Zuschauern gestoßen zu werden. Alestra zuckte bei dem Geräusch des aufbrechenden Siegels, das ihr feines Gehör in der Waldesstille viel zu laut wahrnahm, zusammen. Sie überflog zunächst die Zeilen, die nicht einmal das halbe Pergament einnahmen. Irgendwie hatte Alestra sich wesentlich mehr an Informationen erhofft, doch offensichtlich wurde sie mit dieser spärlichen Auskunft hingehalten. Sie musste die Worte anschließend ganze fünfmal lesen, denn ihr vor Aufregung klopfendes Herz schien mit jedem seiner Schläge ihren Lesefluss unterbrechen zu wollen, während ihr Kopf sich einfach nicht auf die Nachricht fokussieren konnte. Es gab keine Grußformel, nur ein schlichtes „Alestra" stach ihr übergroß ins Auge. Einzelne Fetzen an Informationen zogen beim Lesen an ihr vorbei. Valyanna hatte den genauen Zeitpunkt des Aufbruchs datiert sowie den Ort, an dem sie sich am folgenden Morgen einfinden sollte. Plötzlich musste Alestra an sich halten, um nicht in Schnappatmung zu verfallen und sie sah, wie sich langsam ihre Finger von dem Pergament lösten und die Zeilen aus ihren Händen glitten. Das war zu viel für sie, das konnten sie nicht auch noch von ihr verlangen! So viele Menschen, die versammelt sein würden an einem Ort, Menschen, die dahinterkommen könnten, was sie war. Alestra sank auf ihre Knie, hob den Brief auf und ließ ihre Augen erneut über die Worte wandern. Nein, sie hatte sich nicht verlesen. Sie hatte sich die Heilung des Thronerben so vorgestellt, dass man sie irgendwie heimlich über eine Hintertür in seine Gemächer führen und sie dann ihrem Werk nachgehen würde, wahrscheinlich unter den Blicken zahlreicher Menschen, die einer dahergelaufenen Heilerin wohl kaum einfach so vertrauen dürften. Aber das, was die Meisterin in diesen wenigen Zeilen geschrieben hatte, überstieg völlig ihre Erwartungen. Man wollte sie doch tatsächlich auf einen Ball schicken, mitten in eine vornehme Gesellschaft, die sich tanzend vergnügen wird ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, dass in den selbigen Gemäuern ihr Thronerbe im Sterben lag. Alestra sollte sehr wohl in den Hof eingeschleust werden, aber auf einen sehr viel offensichtlicheren Weg als sie vermutet hätte und diese neue Wendung war es, die ihr mehr als nur Unbehagen bereitete. Mit jedem Schritt, den Alestra zwischen den Gewächsen tat schien die Zeit bis zum Morgengrauen schneller zu vergehen und die unbehaglichen Gedanken zu wachsen und auch das systematische Durchgehen jeder Gruppe der Nachtschattengewächse auf der Suche nach den nötigsten Zutaten für ihre Reise konnte ihr keinerlei Ablenkung verschaffen. Bereits als sie einige Zeit später, nachdem die Beutel an ihrem Gürtel mit den wichtigsten Blättern, Blüten, Knollen und Wurzeln gefüllt waren, gingen ihr die Sorgen und all die Überlegungen über die nächsten Tage nicht aus dem Kopf und es machte sie innerlich fast schon rasend, dass sie so beeindruckend wenig über diesen Auftrag wusste, obwohl doch sie diejenige war, die man extra angeheuert hatte. Mehr als die Tatsache, dass sie selbst Gast auf dem vom Fürsten Aransils ausgerichteten Ball, der auf seiner Burg in Tarranar stattfinden wird, sein würde, wusste sie nicht. Als ihre Hand unvermittelt auf etwas Metallenes traf, traf sie selbst ein Schlag mit solcher Wucht, dass sie nach hinten zu taumeln schien, doch sie hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Vielmehr war es ihr Innerstes, das von diesem Schlag getroffen worden war, und als sie sich aus ihrer gedankenverlorenen Trance gerissen hatte, sah sie auch, was es gewesen war. In all den Gängen, die ihre Bedenken errichtet hatten, hatte sich Alestra so sehr verirrt, dass sie nicht bemerkt hatte, wie ihre Füße sie wie von selbst zurück zu ihrem Zimmer getragen hatten und nun war es die mit Schattenmagie versiegelte Tür, die ihr den Weg versperrte. Alestra ging in sich, suchte die Macht in ihrem Innersten und nach einem Wink ihrer Hand, die die Schatten in sich aufsog, schwang die Tür auf. Doch über die Türschwelle kam Alestra gar nicht, denn die Szenerie, die sich ihr bot, ließ sie in der Tür erstarren. Am Fenster, den Rücken zu ihr gewandt, stand die zierliche Gestalt von Melissa und in den Händen hielt sie etwas, das ihrem Blick verborgen blieb. Sie spürte die Aura, die von dem Mädchen ausging und sie strahlte etwas so Beklemmendes aus, dass Alestra das Atmen merklich schwerer fiel. Betont langsam wandte sich Melissa zu ihr um und was sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, ließ die Beklemmung auf Alestras Herz übergreifen und sie wusste, dass genau das eingetreten war, wovor sie Melissa und sich selbst hatte bewahren wollen. In Melissas Augen standen Traurigkeit und Verzweiflung und eine undefinierbare Glanzlosigkeit, als sie mit brüchiger Stimme die Stille durchbrach.

„Was hat das alles zu bedeuten, Alestra? Was hast du mit mir vor?" 





Alestra - SchattennebelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt