Und dann kam das Tief.
Kaum hatte Savannah die Praxis verlassen, verschwand das triumphale Gefühl was sich eben noch um sie gewoben hatte.
Sie steckte sich die Kopfhörer in die Ohren, setzte sich auf den Bürgersteig und beobachtete die vorbeifahrenden Autos, fragte sich wohin sie wohl fuhren und ob sie gesund und glücklich ankommen würden. Ordnete die Farben der Autos in Gruppen und dachte sich Geschichten zu den Menschen hinter den Scheiben aus. Versuchte unbeschwert zu sein.
Sie und ihr älterer Bruder Henri hatten diese Dinge, mit einer großen Eistüte in der Hand und auf dem Gehweg sitzend in ihrer Kindheit oft getan und es gab ihr das Gefühl, dass alles in Ordnung war."Setzen wir uns auf den Bürgersteig?", fragte Henri und deutete auf den Beton. Sie nickte, setzte sich und zog die Knie an die Brust. Ließ sich die warme Sommersonne ins Gesicht scheinen.
"Mach die Augen zu Savannah. Ich erzähl dir eine Geschichte." Sie tat, was ihr Bruder ihr sagte; vor ihren geschlossenen Lidern tanzten leutend orangefarbene Flecken.
"Wovon handelt sie?" fragte sie gespannt.
"Von dir. Und mir", erwiderte er, aber diese vage Beschreibung gefiel ihrem 9 jährigen Ich absolut nicht. Sie wollte Details und keine philosophische Beschreibung von dem, was sie erwarten würde.
"Henri", nörgelte sie und schlug ihn spielerisch auf den Oberarm. "Sag doch!" Ihr Bruder lachte.
"Na schön. Ist ja gut."
Sein Blick verlor sich irgendwo als er anfing zu erzählen.
Savannah hatte die Augen wieder geöffnet und betrachtete nun die ihres Bruders. Sie liebte den verträumten Blick, mit dem er seine Umgebung wahrnahm, konnte nicht genug kriegen von dem leisen Fernweh in seinem Blick.
All das gab ihr das Gefühl, dass alles in Ordnung war.
Oder zumindest, dass alles in Ordnung kommen würde.Doch es war absolut nicht alles in Ordnung. Und Savannah wusste, dass auch nie wieder alles in Ordnung kommen würde.
Wieder hatte sie die Therapiestunde unterbrochen, wieder hatte sie sich wie eine Verrückte aufgeführt und wieder würde sie sich vor ihren Eltern verantworten müssen.
Und dennoch konnte sie, wollte sie nichts anderes tun als sich an dieses Gefühl des In-Ordnung-Seins wie eine Ertrinkende zu klammern.Sie hatte das Gefühl, dass ihr Leben nach diesen Sommermonaten in ihrer Kindheit wie ein Weg voller Treibsand gewesen war.
In jenem Sommer hatte sie es zugelassen, dass sie einsank ohne es überhaupt zu merken.
Seitdem hatte sie versucht sich zu befreien und war noch tiefer eingesunken, ohne den Funken eines Gedankens daran zu verschwenden, dass sie dadurch nicht frei kommen konnte.
Und irgendwann begriff sie, dass all ihre Bemühungen nichts nützten und wusste plötzlich, was von Anfang an deutlich vor ihr gelegen hatte: alles was jetzt noch kommen würde, könnte ihr niemals dieses eine Gefühl zurück geben.Es dauerte keine Viertelstunde bis der rote, rostige Wagen vor der Praxis anhielt. Wortlos blickte sie zu ihrer Tochter auf dem Bürgersteig hinunter. Savannah wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. Den Blick den sie auf sich liegen spürte, eine Mischung aus stillem Betrübnis und lautem Zorn, genügte, um ihr auch den letzten Tropfen des Hochgefühls zu rauben.
Ihre Mutter machte keine Anstalten sie zum Einsteigen aufzufordern, starrte nur weiterhin still schweigend auf sie, bis sich ihr Blick irgendwann trübte und ihre Gedanken abschweiften. Erst als Savannah dies Bemerkte traute sie sich, vom Bürgersteig aufzustehen und widerwillig die Autotür zu öffnen.Sie setzte sich und fühlte sich wie eine Fremde neben ihrer Mutter. Stillschweigend hoffte sie, dass sie einfach losfahren und keinen Ton über die Geschehnisse verlieren würde.
Dass sie darüber Bescheid wusste, war absolut klar. Mr Greenslee hatte bis jetzt immer sofort zum Telefon gegriffen.
Sie versuchte die Tür nicht zuzuschlagen, aber der Laut, der trotzdem entstand, riss ihre Mutter aus ihren Gedanken. Wie sehr diese Tagträumerei mich an Henri erinnert.
Sofort war sie wieder bei ihr; ihr Blick war zurück in die Wirklichkeit gelangt und glitt von Savannah weg, als könnte sie plötzlich nicht mehr ertragen sie anzusehen.
Beide starrten sie eine Weile lang auf die Windschutzscheibe des Autos.
Es dauerte viel zu lang, bis ihre Mutter endlich den Motor startete. Und fast war Savannah froh nach Hause zu kommen.
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Teach Me How To Be
FantasyNiemand weiß, wer er wirklich ist, wenn er jung ist. Die meisten geben vor jemand zu sein, der er nicht ist, nicht sein will. Eine fiktive Person, durch Lügen erschaffen. Doch Logan hat genug. Er will endlich er selbst sein und allen zeigen wie es...