EINIGE MONATE ZUVOR
Draußen schneite es, weiße Flocken fielen vom Himmel, nur um sofort auf dem Asphalt wieder zu schmelzen. Auf den Straßen staute es sich, Autos blieben auf der Stelle stehen, der Berufsverkehr hielt Einzug. Als hätte man urplötzlich einen Stöpsel gezogen.
Madison umfasste die heiße Tasse grünen Tee, nur um gleichzeitig in ihren Cupcake zu beißen. Sie saß in einem Kunstcafe, ein wenig abseits vom Geschehen, in einer lichtdurchfluteten Seitengasse. Der Remix irgendeines amerikanischen Durchschnittssongs wurde gespielt, ließ die Lautsprecher vibrieren. Der Raum war gut gefüllt. Wenn Madison genau hinhören würde, könnte sie den Gesprächen lauschen, welche man an den Nachbartischen abhielt. Doch die junge Frau mit den blau grün gefärbten Haaren schaute lieber verdrossen in ihre dampfende Tasse und rührte den Tee mechanisch mit einem kleinen Silberlöffel um.
Mal wieder hatte sie eine Absage einer Galerie erhalten. Es wäre nicht ganz das, was man sich vorstelle. Nicht genug Kunst. Nicht genug Inspiration und Leben. Nicht genug. Einfach nicht genug.
Seit drei Jahren hielt sich die 26 jährige nun schon gerade so mit Aushilfsjobs und einigen Aufträgen über Wasser, die meist aber nicht genug Geld abwarfen. Ihre Eltern wollten sie nicht mehr sehen, zu groß die Enttäuschung über das angeblich unerfüllte Leben ihrer Tochter. Madison jedoch konnte wegen ihres Stolzes nicht zurückkehren.
In einem Zug kippte sie das heiße Getränk hinunter, als sie den Blick von jemandem auf sich spürte. Im nächsten Moment setzte sich eine asiatische Schönheit auf den ihr gegenüber liegenden Stuhl. Die Haare kurz bis unters Kinn, ein ausgewaschenes Rosa, mandelförmige Augen mit einem Karamellfarbenen Braun. Sie hatte hohe Wangenknochen, ungewöhnlich volle Lippen für eine junge Japanerin und einen langen Hals, um den sich ein Schwarzes Lederband mit einem Herzanhänger wandte.
Das helle khakifarbene Over Size Shirt stand ihr gut und zeigte ihre Schlüsselbeine. Madison hätte nie gedacht, dass die Klavikula so attraktiv wirken konnte. Mal abgesehen von ihren, soweit sie sie sehen konnte, schönen Brü-
„Hey." Ihre Stimme ließ den Blick der freischaffenden Künstlerin nach oben schnellen, in der Hoffnung, nicht allzu ertappt zu wirken. Sie zwang sich trotz ihrer derzeitigen Lage zu einem Lächeln, dass es allein schon wegen ihrer außergewöhnlichen Gesprächspartnerin wert war.
„Hi." Verlegen knapperte sie an ihrem Cupcake, während sie sich innerlich die Frage stellte, wie lange sie schon keine Gespräche mehr mit jemandem geführt hatte, wenn man Kaffee und Pizza holen ausschloss. Mit einer Fremden. Einer attraktiven Fremden.
Die Unbekannte tippte mit den Fingern auf der hölzernen Tischplatte den Takt des neu eingespielten Jazz Songs, während sie auf ihrer unteren Lippe herumkaute.
„Aiko." Ein scheuer Blick zu ihr, dann ein Murmeln hinter hervorgehaltener Hand.
„Mafsdison."
„Hm?"
„Madison." Aiko legte den Kopf ein wenig schief und schaute sie mit einem nachdenklichen Blick an. „Was führt dich hierher? Ich war schon oft im Exescrea, aber du bist mir noch nie aufgefallen." Eine Kellnerin kam und stellte einen Milchkaffee vor der Japanerin ab. Sie schien ein wenig jünger, vielleicht 23. Aber die Amerikanerin war noch nie gut im Alter einschätzen von Leuten gewesen. „Essen." Meinte sie wortkarg. Ihr Gegenüber zog eine Augenbraue nach oben.
„Und was machst du beruflich?"
„Ich bin Künstlerin. Bevor du fragst: es läuft beschissen. Aber immerhin. Es läuft. Wenn auch abwärts." Aiko versuchte sich ein kleines Lächeln zu verkneifen.
„So schlimm?"
„Du meinst bis darauf, dass ich heute mal wieder eine Absage erhalten habe, mein nächstes Projekt sich mit der Thematik Aktzeichnen beschäftigt und ich bis jetzt noch kein geeignetes Model gefunden habe, was sich praktisch kostenlos anbieten würde? Nicht zu vergessen die Nachbarskatze, dieses Drecksvieh zerkratzt mich fast. Ach ja UND meine Heizung ist ausgefallen, ein Mechaniker kann erst in 4 Tagen vorbei kommen. Bis darauf, dass ich für eine Tasse Tee und einen Cupcake der nach nichts schmeckt 1,605 Yen ausgegeben habe? Perfekt." Sie hatte sich in Rage geredet. Wie peinlich. Ihre Wangen röteten sich und ihr wurde wieder einmal bewusst, weshalb sie nie Rouge brauchte. Aiko verschränkte ihre Hände miteinander, lehnte sich vor und leckte sich kurz über die pinken Lippen. „Ich würde mich als Aktmodel zur Verfügung."
„Mh." Entgegnete Madison und schaute aus dem Fenster. Eine Taube war auf dem Fußweg gelandet und pickte nach den Krumen eines Brötchens. Sie würde sich als Aktmodel zur-
„Warte, WAS?" Ihr Kopf drehte sich samt weit aufgerissenen Augen abrupt um, als ihr die Bedeutung der Worte bewusst wurde. Aikos Mund verzog sich zu einem Lächeln.
„Aber...du bist dann nackt." Ein kleines Kichern entfloh der hübschen Japanerin.
„Das haben Aktzeichnungen so an sich." Madison schaute verwirrt drein. Ihr war nicht entgangen, dass die Frau mit den pinken Haaren mit ihr flirtete, allein durch ihre Körperhaltung und ihre Blicke. „Also..." sie suchte nach den richtigen Worten.
„Ich stand schon vorher mal Model für einen Zeichner. Aber irgendwie glaube ich, dass du um einiges talentierter bist, obwohl ich noch nie eines deiner Werke begutachten durfte."
Vielleicht, das musste die Künstlerin zugeben, tat es gut mal wieder mit jemanden zu reden. Vielleicht tat es gut mal auf dieses Spiel einzugehen, etwas zu wagen. Vielleicht tat es gut, mal wieder zu flirten.
„Ich hätte jetzt Zeit." Führte sie ihre Gedanken weiter aus und schaute zögerlich zu Madison, unsicher, ob sie zu weit ging. Währenddessen schob sich die gebürtige Amerikanerin das letzte Stück Cupcake in den Mund, um ihre Gedanken zu sortieren. Sie war doch gar nicht vorbereitet. Außerdem...was würde sie dafür verlangen, um ihren Körper zur Schau zu stellen?
„Dein Preis?" Aiko schien ein wenig überrascht, dass ihr Vorschlag Früchte trug. Dass es die junge Frau mit den blaugrünen Haaren und dem amerikanischen Akzent in Erwägung zog. Sie wurde wieder sicherer, überschlug unter dem Tisch ihre Beine und lehnte sich nach hinten.
„Ich will deine Werke sehen. Bilder von Künstlern sind doch der Spiegel zur Seele, nicht wahr? Vorerst war es das." Den letzten Satz überging Madison bewusst.
„Heißt es nicht Augen?"
„Alles eine Frage der Sichtweise und Interpretation."
Ihr Gegenüber seufzte, wägte noch einmal kurz ab und verlangte dann nach der Rechnung. Wage etwas.
Aiko war urplötzlich und vollkommen abrupt in ihr Leben gestolpert. Und genauso würde sie auch wieder verschwinden.
-DK
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PAINT ME.
Short Story"Ich bin noch am Leben, oder? Scheiße." Madison war eine Künstlerin. Sie spielte mit den Farben. Dann spielte die Liebe mit ihr. Und daran zerbrach sie. ° 299 in Kurzgeschichten, 26072017