Because you don't destroy the person that you love.
Kunst machte sie schon lange nicht mehr. Sie hatte sich nicht an die Abgabetermine gehalten, nichts vorbereitet. Somit auch kein Geld. Ohne ihre Muse war sie nichts. Ohne Aiko war sie nichts.
Mittlerweile waren 43 Monate vergangen. Madison konnte sie nicht vergessen. Sie wollte sie nicht vergessen. Sie war sich nicht sicher, seit wann sie das letzte Mal in ihrer Wohnung geputzt hatte, doch sie glaubte die Pfütze des Farbbechers von damals noch erahnen zu können. Damals. Das Damals mit Karamellaugen und ausgewaschenem rosa Haar.
Sie lief die Hauptstraße entlang, orientierungslos mit einer Flasche Bier in der Hand, sicher verwahrt in einem kleinen Rucksack. Sie war nun 29 Jahre alt und hatte nichts erreicht in ihrem Leben. Madison lachte, erntete ein paar Blick. Ein Bus fuhr an ihr vorbei, durch eine Pfütze. Im nächsten Moment war sie klatschnass. „WAS ZUM FICK SOLL DAS?" schrie sie. Sie war so laut, dass sich selbst die Menschen auf der anderen Straßenseite zu ihr umdrehten.
Und da sah sie sie. Das Mädchen mit den kurzen rosa Haaren. Aiko. Die ehemalige Künstlerin war ganz stumm, traute ihren Augen nicht. Da war sie. Ihre kleine Freundin.
Wie von allein trugen ihre Beine sie rüber. Sie ignorierte das Kreischen der Bremsen, das Hupen der Autos , das Beschweren der Fahrer.
Madison rannte auf sie zu, packte sie an der Schulter, drehte sie zu sich um. Doch das war nicht Aiko. Diese Frau hatte eine Stupsnase, kleine Augen und schmale Lippen. Sie trug einen ängstlichen Blick auf ihrem Gesicht. Abrupt ließ die 29jährige sie los, stolperte zurück. Ihr Gehirn hatte ihr einen Streich gespielt. Shit. Das wäre ja auch nicht möglich gewe-
In einer Gasse erblickte sie noch einen rosa Haarschopf, welcher sich gerade eine Kapuze über den Hinterkopf schob. Madison war angetrunken, aber sie schwor sich, nach dieser Person nicht weiter nach einer möglicherweise lebendigen Aiko Ausschau zu halten. Sie würde sie vergessen. Mit Alkohol. Viel Alkohol.
Sie rannte der Person hinterher, über Schienen und Gleise. Es war derselbe Ort wie vor über drei Jahren. Mit Münzen, Gimbap und Sonnenuntergang. Nur die Jahreszeit war anders. Kälter.
Gerade eben Kletterte das Mädchen vor ihr zu dem höher gelegenen Fußweg, während Madison mitten auf der Fahrbahn von den Zügen stehenblieb.
„AIKO!" Die Frau fuhr herum, die Kapuze rutschte herunter, entblößte die Haare, welche durch die Luft tanzten. Hohe Wangen, volle Lippen. Karamellaugen.
Aiko.
Sie war es wirklich.
Madison taumelte zurück. Das war nicht möglich. Unmöglich. „Aiko?" Es war nur ein Hauchen, eine Aneinanderreihung von Buchstaben anstatt eines Wortes.
„Madi." Wisperte sie. Das war eine Verwechslung. Sie war doch tot.
„Wie?"
„Ich..." Sie suchte nach einer Erklärung. Ebenso wie sie den Anblick ihrer Künstlerin verarbeiten musste. Und auf einmal sprudelten die Worte aus der Amerikanerin nur so hervor, all die Emotionen und Fragen die in den letzten Jahren unbeantwortet geblieben waren.
„Warum warst du weg? Warum hast du mich verlassen? WARUM BIST DU EINFACH SO GEGANGEN, OHNE EIN STERBENSWORT? MAGST DU ES MICH LEIDEN ZU SEHEN? MIR ZUZUSEHEN WIE ICH INNERLICH VERBLUTE?" Sie war wütend. Und sie hatte jedes Recht dazu.
„Ich wusste nicht wohin mit mir. Ich wusste nicht wer ich selbst war. Du maltest diese Person und ich fragte mich, ob wirklich ich sie darstellte. Ob nicht das Bild eine Kopie von mir, sondern ich eine Kopie deines Werkes verkörperte. Es-"
„Sag jetzt nicht, es tut dir leid. Als würde das irgendetwas..." sie suchte nach dem richtigen Wort. Der Alkohol vernebelte ihr Hirn. Mit erhobener Hand deutete Madison auf Aiko. „...ändern. Du zweifelst an dir und die einzige schlüssige Erklärung und Lösung ist für dich, ohne ein Wort abzuhauen?" Man hörte ein Rattern. Ein Zug kam. Panik machte sich in der Japanerin breit.
„Madi-"
„NENN MICH NICHT SO!"
„Bitte lass uns das hier oben klären, ja? Hier ist es sicher."
„Wir klären gar nichts!" entgegnete die Alkoholikerin.
Was habe ich nur aus diesem wundervollen Menschen gemacht?
Der Boden unter Madisons Füßen begann zu vibrieren. Mit Tränen in den Augen richtete sie ihren Blick auf das Karamellbraun und die rosa Haare. Diesmal war sie diejenige, welche nicht aufhören würde.
„Wenn du so einfach abhauen konntest, hast du mich überhaupt geliebt?" Aikos Augen weiteten sich, als der Zug mit voller Geschwindigkeit auf ihre ehemalige Freundin zufuhr. Sie zögerte. Ein letzter bittender Blick, ihre Antwort, welche vom Wind fast verschluckt wurde und Madison...
Madison, die vom Zug erfasst wurde.
THE END
-DK
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PAINT ME.
Kurzgeschichten"Ich bin noch am Leben, oder? Scheiße." Madison war eine Künstlerin. Sie spielte mit den Farben. Dann spielte die Liebe mit ihr. Und daran zerbrach sie. ° 299 in Kurzgeschichten, 26072017