Kapitel 4 - Die zerstochenen Reifen meines Vaters

1.6K 249 100
                                    

5 Jahre später

Wenn ich eines in den letzten Jahren gelernt hatte, dann war es, dass man oftmals voreilige Schlüsse zieht, die einen später in die Quere kommen können. Zum Beispiel beim Schach. Die Züge des Gegners analysieren und möglichst vorausschauende Strategien zu befolgen, das war, was man beim Schachspielen brauchte. Ohne dauerhaft seine Konzentration auf dem Spielfeld zu haben und jeden kleinsten Schritt des Gegenüber zu verfolgen, konnte einem dem Sieg verwehrt werden. Der Kampf um das Zentrum des Feldes sollte gewonnen sein, um überhaupt über das Siegen nachdenken zu können. In meinem Fall war das Zentrum allerdings beinahe zur Hälfte von gegnerischen Figuren besetzt. Da verfolgte wohl jemand die gleiche Taktik wie ich.

„Du denkst schon wieder viel zu viel nach", sprach die Stimme meines Gegners zu mir, was mich allerdings nicht dazu brachte, weniger nachzudenken. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass du mich noch schlagen kannst, obwohl meine Türme deinen König seit drei Zügen im Visier haben."

Ich rieb mir das Kinn und starrte auf mein weißes Pferd, das perfekt stand, um einen der schwarzen Bauern ins Jenseits zu befördern.

„Wenn du noch länger in dieser Formation verharrst, mache ich dich im nächsten Zug platt. Und glaube mir, diese Niederlage würdest du nicht verkraften. Außerdem penne ich gleich weg."

Schließlich entschied ich mich, den schwarzen Bauern aus dem Feld zu werfen. Zufrieden mit meinem Zug hob ich den Kopf an und sah zu Harry, der mir gelassen gegenübersaß. Sein Pullover hatte einen grünen Ton angenommen. Er trug, je nachdem, wie er sich gerade fühlte, Jeans, die eine normal graublaue Farbe hatte. Ich wusste, grün war seine Kleidung, wenn er entspannt war. Je greller die Farbe, je ausgeprägter seine Empfindungen. Ein Phänomen, das mich seit Jahren faszinierte.

Seine dunkelbraunen Haare hatten sich über die Jahre ein kleines bisschen in Locken verwandelt. Ich konnte mir nie erklären, warum, aber sie gefielen mir. Manchmal fielen sie über seine grünen Augen und manchmal standen sie in die Höhe. Aber vollkommen egal wie sie nun gestylt waren – Harry war ein hübscher Junge. Eigentlich viel zu hübsch, um mein bester Freund zu sein.

„Wenn du mich nun schlägst, dann nur", sagte ich zu ihm, „weil du mich nicht lange genug nachdenken lassen hast."

Er schüttelte ungläubig den Kopf und zeigte auf seinen Turm. Da er die Figuren nicht bewegen konnte, musste ich das tun und weil ich schon wusste, was genau er vorhatte, war ich gezwungen, seinen Turm gegen meinen König zu verwenden. „Ein guter Angriff ist die beste Verteidigung, Joly", sagte Harry. „Nicht anders herum."

Aber statt seine Figur zu bewegen, verschränkte ich die Arme. „Nein, ich weigere mich."

Verdutzt blickte er mich an. „Du weigerst dich? Schachmatt zu sein?"

„Ganz genau. Ich weigere mich."

Genauso wie ich verschränkte er die Arme und hob die Braue. „Und ich nahm an, mittlerweile wärst du geübt darin im Schach gegen mich zu verlieren."

„Weißt du, deine schlauen Sprüche lassen dich nur wie einen noch nervigeren Gewinner dastehen."

„Weißt du", konterte er. „Wenn du nicht stundenlang über deinen nächsten Zug nachdenken würdest, könntest du eventuell einmal der nervige Gewinner sein."

„Du warst derjenige, der mir gesagt hat, ich soll dem Gegner immer vier oder fünf Schritte voraus sein!"

„Aber nicht so weit voraus, bis ich einnicke, weil du irgendwo im Nirgendwo angekommen bist!"

Ich schnalzte mit der Zunge und drehte meinen Kopf weg. „Mach deinen letzten Zug doch selbst, Elizabeth."

„Ich lach mich tot."

The good nights I never had (abgebrochen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt