Kapitel 1 - Mein Regen

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Oben das verlinkte Lied habe ich als Titellied der gesamten Geschichte gewählt. Hört doch mal rein! :)
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Es war zwei Tage nachdem mein Vater mir sagte, Jonathan sei gestorben, als ich mich das erste Mal fragte, an welchen Ort wir Menschen kommen, wenn wir sterben.

Ich beobachtete das Aufkommen eines Wassertropfens in eine kleine, weiße Schale, der von der undichten Zimmerdecke fiel. Das Geräusch, das es machte, war in diesem Moment alles, was man hören konnte. Es hypnotisierte mich. Fast, als wollte mir das Wasser, durch das immer wieder aufkommende Plätschern, tröstende Worte zusprechen.

In meinem Kopf spielten sich unzählbar viele Augenblicke ab. Ich dachte an Jonathan und wie er mir erst vor drei Tagen versicherte, das Wasser, das von der Decke tropfte, hätte nichts damit zu tun, dass ich die Badewanne überlaufen lassen habe. Oder er, wie er mir schelmisch ins Gesicht lachte, weil sein Strich am Türrahmen meinen nun übertrumpfte. Ständig nannte er mich Winzling und tat so, als sei er der größte Mensch der Welt. Dabei lag zwischen seinem Strich und meinem gerade einmal eine halbe Fingerkuppe.

Oder er, und wie er immer auf dem freien Stuhl mir gegenüber an diesem kleinen Tisch saß. Und nun, wie dieser Stuhl, zwei Tage nachdem mein Vater mir sagte, er, Jonathan, sei gestorben, leer war.

„Häschen."

Ich hatte das Gefühl, das Plätschern des Wassers wurde ohrenbetäubend laut, jedes Platschen wurde durchdringender, umso deutlicher Jonathans Gesicht vor meinem geistigen Auge wurde.

„Joline, Schatz."

Das Aufschlagen der Tropfen verursachte mir Kopfschmerzen, es dröhnte und hämmerte gegen meine Schädeldecke wie ein Metallhammer. Es war so schmerzhaft, ich dachte, ich bekäme kaum noch Luft. Zwischen den Schlägen konnte ich irgendwo Jonathans Lachen hören, und wie es manchmal so laut war, dass ...

Eine große, warme Hand legte sich auf meine Schulter und rüttelte mich. Mein Vater saß neben mir und sah mich mit seinen braunen, traurigen Augen an. Er trug noch das schwarze Hemd von Jonathans Beerdigung, in seiner Hand ein weißes Taschentuch, das er mir sorgsam an die Nase hielt. „Du blutest wieder", sprach er mir leise zu und verzog seinen schmalen Mund, um den sich Falten bildeten.

Ich nahm ihm wortlos das Tuch ab, hielt es mir unter die Nasenlöcher und senkte meinen Kopf ein wenig nach vorne. Irgendwie war ich enttäuscht, nicht mehr auf das tropfende Wasser sehen zu können. Ich hörte das Plätschern so schön, jetzt war es, als sei es nur ein leiser Hintergrundton. Mir gefielen die vielen Geräusche nicht, die mein Vater, wenn er aufstand und der brummende Kühlschrank machten.

„Das Wetter scheint nicht zu wissen, was es will", hörte ich nun Paul, unseren Nachbarn sprechen, der auf unserer Couch im Wohnzimmer saß. „Der Himmel ist seit Stunden dunkelgrau, aber regnen tut es einfach nicht."

„Ich brauche keinen Regen", erwiderte mein Vater. Ich vernahm, wie er das kleine Gefrierfach im Kühlschrank öffnete. „Mir reicht ein Wasserleck bereits aus." Er legte mir etwas Kühles, Weiches in den Nacken und sagte leise: „Halt es vorsichtig fest, damit es nicht runterfällt, ja?"

Ich nickte nur und bemerkte erst jetzt, dass ich Blut auf meinem hellblauen Kleid hatte. Es waren nur zwei kleine Tropfen, die sich in den Stoff gesogen hatten, aber sie gefielen mir nicht. Das Kleid war das, was Jonathan so sehr mochte, als ich es ihm das erste Mal zeigte.

„Aber Joline", sprach mich Paul an. Er hatte eine unangenehm tiefe, raue, kratzige Stimme. „Wenn du weiterhin so viel Nasenbluten bekommst, muss dein Vater noch eine Putzfrau organisieren, die all die roten Flecken wegwischt, die du überall hinterlässt."

The good nights I never had (abgebrochen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt