Kapitel 2

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Am nächsten Morgen zog ich meinen neongelben Bikini an, der meine gebräunte Haut zur Geltung brachte. Meine halbe Garderobe bestand praktisch aus Bikinis, Badeanzügen und Neoprenanzügen. Meine Haare fielen mir in leichten Wellen über die Schultern. Nach dem Schwimmen ließ ich sie immer so trocknen, weil sie mir so natürlich am besten gefielen.
Ich zog mir ein gestricktes, schwarzes Strandkleid über und verließ das Haus. Wie üblich joggte ich den Weg zum Strand. Doch zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass dieser Tag alles andere als üblich sein würde und dass er mein ganzes Leben verändern würde. Ich rannte den langen Kiesweg zum Strand entlang, der in etwa einem Kilometer Entfernung lag. Die Sonne schien, war aber noch nicht ganz aufgegangen. Die Möwen waren schon wieder in der Luft. Das Gras am Rande des Kiesweges schien so grün und frisch, die Palmen wehten leicht im Wind.
Ein lauter Schrei durchbrach meine Idylle. Perplex blieb ich stehen und hörte genau hin. „Hilfe!“
Der Schrei wiederholte sich immer wieder. Instinktiv rannte ich weiter zum Strand. Schneller, so schnell ich konnte. Je näher ich kam, desto leichter erkannte ich, was dort vor sich ging. Ich sah jemanden, der im Wasser mit dem Ertrinken rann. Die Person strampelte wie verrückt und wedelte mit den Armen. Das war die Quallen-Bucht. Mal wieder ein unerfahrener Schwimmer, der sich in unbekannte Gewässer wagte. Ich rannte so schnell, dass meine Beine drohten zu versagen, obwohl ich ziemlich sportlich war. Als ich endlich den warmen Sand betrat, waren die Schreie längst verstummt. Das Wasser war still, weit und breit niemand zu sehen. Ich versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, wo ich den Ertrinkenden gesehen hatte. Schnell schlüpfte ich aus meinem Strandkleid. Intuitiv sprang ich ins Wasser und schwamm auf die Quallen-Bucht zu. Ich tauchte unter und sah noch einige Quallen vor mir, aber es war niemand zu sehen. Ich blickte um mich, nach links und nach rechts. Nichts als Wasser. Erst als ich nach unten sah, sah ich einen Körper im Wasser, der noch nicht weit untergegangen war. Ich tauchte kurz auf, um Luft zu schnappen und setzte dann meinen Weg zu dem Körper fort. Erleichterung machte sich in mir breit, als ich den Körper ergriff. Er war schwer, aber ich war mir sicher, dass ich ihn an Land ziehen konnte. Ich griff ihm unter die Arme und schwamm dann nach oben. Als ich vorsichtig neben den Quallen auftauchte, sah ich den Mann an, den ich soeben aus dem Wasser geholt hatte, aber er war ohnmächtig. Mit aller Kraft schwamm ich zum Strand und schliff den Körper an Land. Schnell rannte ich zu einem der Not-Telefone, die hier an jedem Strand standen. Ich rief einen Krankenwagen und rannte dann zu dem Verletzten zurück. Er hatte Quallen-Stiche an Beinen und Bauch. Ich legte mein Ohr an seinen Mund, doch hörte kein Atmen mehr. Ich setzte sofort meine Hände auf seine muskulöse Brust auf und fing an zu pumpen. Erst jetzt konnte ich ihn ansehen. Seine Haare waren kurz und hingen ihm leicht gelockt auf die Stirn. Seine Haut war blass angelaufen. Immer wieder drückte ich seine Brust und blies Luft in seine Lungen. Mein Körper war schon total erschöpft, weil ich ihn aus dem Wasser hatte ziehen müssen und die Herz-Druck-Massage gab mir den letzten Rest, was ich nicht merkte, da zu viel Adrenalin durch meine Adern schoss und mich aufweckte. Vor Jahren hatte ich einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht, um auf Situationen wie diese vorbereitet zu sein. In Australien sah man öfter Quallen-Stiche, doch in diesem Ausmaß hatte ich es noch nie gesehen. Leute mit geringeren Stichen waren gestorben und soweit ich wusste, hatte man mit solchen Verletzungen wie seinen keine besonders große Chance. Mir selbst wurde langsam schwindelig, doch es konnte sicher nicht mehr lange dauern, bis ein Krankenwagen kommen würde. Ich zuckte leicht zusammen, als der Fremde anfing zu husten. Es hörte sich an, als würde er gurgeln, weshalb ich ihn zur Seite drehte, damit er das Wasser aushusten konnte, ohne daran zu ersticken. Aus der Ferne hörte ich schon die Sirenen des Krankenwagens. Er hörte nicht mehr auf zu husten. Behutsam legte ich meine Hand auf seine Schulter.
„Ist schon in Ordnung“, sagte ich. „Es kommt gleich Hilfe.“
Als er aufhörte zu husten, drehte er sich auf den Rücken. Seine Augen waren zusammengekniffen und er schrie vor Schmerzen. Das taten auch Leute, die nur Stiche am Bein hatten. Was musste er dann für Schmerzen erleiden? Ich fühlte mich so hilflos, weshalb ich meine Hand in seine legte. „Drück‘ meine Hand.“
Er tat, was ich sagte. Ich vermutete, dass er alles nur bruchstückhaft mitbekam. Die Knochen meiner Hand fühlten sich bereits taub an, aber er musste wohl weitaus stärkere Schmerzen durchstehen. Endlich kamen die Sirenen näher. Ein paar Sanitäter brachten eine Trage daher und spritzen ihm irgendwas. Langsam lockerte sich sein Griff, bis er letztendlich losließ. Ich zog mir mein Strandkleid über und sprang mit in den Krankenwagen. Jetzt da ich ihn wiederbelebt hatte, wollte ich natürlich wissen, ob er gesund werden würde.
„War er ohnmächtig?“, fragte einer der Sanitäter.
„Ja, sein Herz hat ausgesetzt“, erwiderte ich.
„Sie haben ihn zurückgebracht?“
Ich nickte.
„Na dann, sie haben ihm das Leben gerettet“, sagte er und überprüfte den Puls des Verletzten.
Irgendwie fühlte sich das gut an. Wenn ich nicht dagewesen wäre, dann wäre er jetzt tot.
„Wie lange war er ohnmächtig?“, fragte er.
„Wie lange haben Sie gebraucht, um herzukommen?“
„Etwa 15 Minuten“, antwortete er. So war es mir gar nicht vorgekommen. Es kam mir vor wie eine Stunde.
„Dann war er so etwa 20 Minuten weg“, erklärte ich.
Im Krankenhaus angekommen, wurde er behandelt und dann auf ein Zimmer gebracht. Ich wartete dort etwa eine Stunde. Die Ärzte sagten zwar, er sei über den Berg, aber trotzdem bat ich eine Schwester, sich bei mir zu melden, sobald es ihm besser ging.

Lighthouse  [Shawn Mendes] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt