Kapitel 1

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Liebe Mira,

ich wollte nicht die Türe öffnen.
Und auch ohne die Augen zu öffnen, habe ich gewusst, das Rivers Schreie nicht mehr verklingen werden.
Ich habe die Haustüre gehört, sie sprang auf und ohne auch nur eine Begrüßung zu sagen, war River's Vater an uns vorbei in dein Zimmer gerannt.
Er hat versucht sie zu beruhigen.
Und hat eben aufgegeben.

Mama und Papa haben es auch und ohne meine Augen oder meine Zimmertür zu öffnen, weiß ich, dass Mama im Flur hockt und in dein Zimmer hinein starrt.
Das macht sie andauernd.
River's Vater hat sich auf
den Boden gesetzt und hört nun die klägliche Schreie seiner Tochter an, und diese werden nicht verklingen, solange ihre beste Freundin nicht mehr ihre Augen öffnet.
Und Papa sitzt draußen an der Treppe und starrt den schneeweißen Eichenbaum an, an dem du und ich damals immer klettern spielten.

Manchmal denke ich, das sie alle mit ihrem leeren Gestarre an Wunder warten. Oder an jemanden, der ihren Schmerz verschwinden lässt.
Denn keiner von uns weiß, wie man Schmerz beendet.

Am wenigsten ich.

Der Schnee fällt vom Himmel und ich stelle mir vor, wie du auf den Wolken sitzt, und ein paar Kissen aufschüttelst, damit es hier unten schneit, denn ich bin mir sicher, dass es wegen dir ist.
Du magst doch Schee so gerne.

Und während ich es höre.
River's Schreie.
Mama's weinen und schluchzen.
Papa, wie er den Baum anstarrt, und River's Vater, wie er weint, weil seine Tochter weint, presse ich meine Handflächen so stark gegen meine Ohren, bis ich nur noch meinen Herzschlag pulsieren höre und sich das Blut in meinen Kopf dröhnend bewegt.
Ich will garnichts mehr hören.

Du hast die Stille mitgenommen.

In Liebe, Thea.





Liebe Mira,

wir hatten immer gehofft, es würde aufhören. Und jetzt ist es wirklich so geschehen.
Mama und Papa brüllen sich nicht mehr gegenseitig an, es ist sogar ganz still im Haus, seit du weg bist.
Wenn sie beginnen zu diskutieren, hört einer von ihnen irgendwann auf und der andere verlässt den Raum. Manchmal beobachte ich die beiden und sehe, das sie ihre Blick gegenseitig suchen, aber sie finden sich nicht, und wenn doch, gucken sie schnell wieder weg, weil sie so viel Trauer nicht sehen können.
In solchen Momenten verlasse ich den Raum, weil mit mir, das Fass des Schmerzes überlaufen würde.
Und hätte ich die Wahl, würde ich die Streitereien unserer Eltern Stunden lang mithören, wenn ich stattdessen dich wieder bekommen würde. 

Am Montag Morgen habe ich um 7 Uhr meine Augen geöffnet und bin mit meiner Schultasche aus der Haustüre gegangen. Mama hat mich gefragt, wo ich hin gehe und ich habe nicht geantwortet, weil mich die Stille an dich erinnert und ich auf einmal nicht mehr den Mut habe sie zu brechen. Ich bin einfach gegangen und Mama hat mir hintergeschrien: "Wie kannst du nur heute schon wieder zur Schule gehen, wenn sie vor gerade mal zwei Tagen gestorben ist?"
Dann hat sie geweint, und ich bin gelaufen.

In der Schule war es schlimmer als daheim, obwohl ich das nie dachte.
Als ich in den vollen Flur ging, öffnete sich in der Mitte der Menge eine Kuhle um mich herum.
Jeder sah mich an, während ich zu meinem Klassenzimmer ging, ohne den Blick von meinen Schuhe zu wenden, denn ich wusste, wenn ich jetzt aufschauen würde, würde ich mich im Mitleid verlieren, das von allen möglichen Richtungen zu mir strömte.

Meine Klassenkameraden waren erst alle ganz still und leise, als ich den Klassenraum betrat und mich an meinen Platz setzte.
Sogar mein sonst so vorlauter Lehrer hat mich Sekunden lang angestarrt.
Niemand hat sich bewegt.
So als hätten sie es verlernt.

Meine beste Freundin Kimberly hat mich vom anderen Ende des Klassenzimmers mitleidig angeguckt und ich hatte das Verlangen danach, dich um Rat zu fragen, weil ich nicht wusste, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte.

"Oh, schön das du hier bist, wir hätten dich nicht schon so früh erwartet", hat mein Lehrer verunsichert versucht zu sagen, ohne zu überrascht zu klingen und hat mich ganz komisch angeguckt.

Ich weiß, dass er sich bemühte den Unterricht normal zu halten, denn er weiß, das Mitleid in solchen Momenten für manche Menschen belastend ist.

Doch um ehrlich zu sein, wollte ich, dass sie alle laut sind und auf den Tischen sitzen, dass die Tafel weiß anstatt grün ist und der Himmel lila als blau. Du bist gegangen und es sollte alles verändern und auf den Kopf stellen. Die Welt soll nicht normal sein, wenn ein Mädchen gestorben ist und so viel mitgenommen hat.
Es sollte doch alles verändert sein.

Doch es blieb wie immer.

Während dem Unterricht, war es so still wie noch nie im Klassenraum. Und mir kam es so vor, als würde mich jeder anstarren.

In der Pause war ich draußen alleine gesessen.
Niemand hat sich getraut zu mir zu kommen.
Und dann stand plötzlich meine ganze Cheerleader Gruppe vor mir und dahinter alle Baseball Jungs mit wehmütigen Blicken.
Kimberly stand ganz vorne und sagte: "Im Namen der Cheerleader und des Baseball Team's, möchten wir unser tiefstes Beileid an dem Tod deiner Schwester aussprechen."
Sie klang so förmlich und fremd.
Ich habe einen Blumenstrauß bekommen.

In Weiß.

Als ich ihn nicht angenommen habe, haben sie ihn neben mich gelegt. Ich habe kein Wort gesagt und sie so lange angestarrt, bis sie verunsichert weggingen.
Kimberly ist noch bei mir geblieben und sagte: "Es tut mir so unfassbar leid, Collin und ich vermissen dich, du kannst immer zu uns kommen, wenn du darüber reden möchtest. Oder du gehst zu unsere Vertrauenslehrerin. Wir werden dir alle bei Seite stehen."
Dann hat es zum Unterricht geklingelt und ich habe den Blumenstrauß genommen, ihn Kimberly in die Hand gedrückt und bin gegangen ohne mich noch einmal umzudrehen.

Und in diesem Moment fielen die ersten Schneeflocken des Tages und ich wusste, dass ich verloren habe.
(Verluste seitdem du weg bist: 1. Kimberly)

Nach der Pause, kam der Lehrer zu meinem Tisch und legte mir eine Beileidskarte auf den Tisch, auf den jeder in der Klasse, unterschrieben hat (in bunten Farben natürlich).
Dann wollte ich nicht mehr.
Ich habe die Karte genommen und bin aus dem Klassenzimmer gegangen, bevor ich die Tür hinter mir langsam zugemacht habe, habe ich die Karte in den Mülleimer geschmissen.

Und als ich gerade dabei war aus dem Schulhaus zu gehen, hast du mich angeguckt. Ein schön eingerahmtes Bild von dir. Da liegen ganz viele Blumen für dich und eine offene Vitrine steht unter deinem Bild, in der man Briefe an dich einschmeißen kann.
Liebe Mira, so fangen sie immer an, wir werden dich nie vergessen. Du wirst vermisst. Du wirst geliebt. Du wirst vermisst und geliebt.
Am liebsten würde ich alle Briefe in Stücke reißen, weil die meisten nicht einmal mit Worten das Geschehene ausdrücken können.
Und obwohl ein offenes Feuer in der Schule verboten ist, brennen 17 Kerzen für dich.
Weil du mit 17 Jahren sterben musstest.

Du bist berühmt geworden, Mira Harmon.
Das wolltest du doch immer.
Dein Gesicht taucht andauernd überall auf.

Das weißt du bestimmt, wenn du die Kissen im Himmel ausschüttelst, und uns alle mit Schnee bedeckst.

In Liebe, Thea.

We all bleed the same colorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt