Kapitel 2

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PoV Manu

Geschockt saß ich auf meiner Couch und starrte den Flachbildschirm an, auf dem gerade die Wettervorhersage lief, als wäre nichts passiert. Als hätte der Nachrichtensprecher nicht eben verkündet, dass meine persönliche Hölle eingetreten war.

Meine Wohnung lag im Evakuierungsgebiet. Ich musste sie räumen. Das bedeutete: Ich würde jetzt raus gehen müssen, tatsächlich das Haus verlassen, auf dem Bürgersteig laufen, zusammen mit hunderten anderen verängstigten Menschen, dann musste ich versuchen, irgendwo einen Schlafplatz zu finden, also in ein Hotel gehen. Dort würde ich wohl oder übel mit einem Angestellten reden müssen, um schließlich endlich auf mein Zimmer zu können, wo ich allerdings nur eine Nacht blieb und dann wieder hierher zurück musste. Allein schon beim Gedanken daran, überhaupt fremden Menschen zu begegnen, wurde mir leicht schwindelig und mein Herz fing an, zu rasen.

Als ich den Menschenmassen entkommen war, die ihre Häuser räumten, stand ich inmitten einer kleinen Grünanlage. Noch immer war mir leicht schwindelig und ich musste mich an einem Laternenpfahl festhalten, um nicht umzukippen. Die Tatsache, dass ich jetzt losgehen und schon wieder jemanden ansprechen musste, um ein Hotelzimmer zu bekommen, machte die Sache nicht unbedingt besser. Aber ich hatte keine andere Möglichkeit, keine Alternative, niemanden, bei dem ich übernachten könnte. Es sei denn...

Nachdem zweimal das Freizeichen erklungen war, nahm Palle endlich ab. „Ja? Was gibt's?", meldete er sich fröhlich. „Äh Palle? Ich hab ein Problem...", fing ich an und merkte, wie meine Hände begannen, vor Nervosität zu zittern. „Oh, was denn? Ich helf dir gerne wenn ich kann!", antwortete Palle sofort und gab mir ein Bisschen Mut. „Also, es ist so. Der Stadtteil, in dem ich wohne, wird wegen einer ausgegrabenen Fliegerbombe evakuiert und ich muss irgendwo übernachten. Und ja, ich wusste nicht wo, also ja, da naja...", stotterte ich, doch Palle beendete meinen Satz: „Da wolltest du fragen, ob es ok ist, wenn du bei mir pennst. Geht in Ordnung, wann bist du denn in etwa da?"

Erschrocken fuhr ich zusammen und sog scharf die Luft ein. Ich hatte keine Ahnung, wie ich zu Palle nach Köln kommen sollte. Ich hatte weder Führerschein noch Auto und mit der Bahn fahren ging auch nicht. Ich hatte keine Möglichkeit, hier weg zu kommen. „Äh also weißt du", fing ich unsicher an, „also das ist wohl doch eher keine so gute Idee. Also weil ich kann nicht zu dir kommen. Also weil ich hab kein Auto. Und ja ich fahre nicht mit der Bahn."

Man konnte deutlich die Verwirrung aus Palles Stimme heraus hören, als er fragte: „Äh ok, und wenn ich dich abhole?" Überrascht riss ich die Augen auf. Das würde er wirklich tun? „Ja, also wenn es dir nichts ausmacht...", murmelte ich leise. „ Nene, für meinen Mänjuel doch immer.  Ich fahr gleich los. Schick mir deinen Standort, dann kann ich dich da abholen! Bis später!"

Und mit diesen Worten legte er auf. Überrascht, verwirrt, ängstlich und erleichtert zugleich schickte ich Palle kurz darauf meinen Standort. Ich würde nachher über zwei Stunden lang mit ihm im selben Auto sitzen. Das waren Himmel und Hölle zugleich. Ich würde mich wahrscheinlich total lächerlich machen, aber trotzdem war der Gedanke, mit Palle zu reden immer noch angenehmer, als irgendeine wildfremde Person ansprechen zu müssen. In der Wartezeit setzte  mich dann auf eine abgelegene Bank am Rand eines Parks, um zu warten und mir über alles Mögliche Sorgen zu machen. 

Sollte ich ihm von meiner Sozialphobie erzählen? Würde er mich dann überhaupt noch mögen? Und könnte ich es im Auto aushalten, so nah neben ihm? Mein Kopf schwirrte vor lauter Bedenken und stumme Tränen liefen mir schon seit längerem über meine Wangen. Sie hinterließen feuchte Schlieren, die in der kalten Nachtluft zu gefrieren schienen, doch ich ignorierte das seltsame Gefühl und starrte weiter geradeaus.

Die Straßen waren inzwischen kaum noch befahren und die Zahl der Fußgänger nahm auch immer weiter ab. Eine Ewigkeit lang beobachtete ich alles, was um mich herum geschah und wusste nicht recht, ob ich Neugierde oder Angst empfinden sollte. Irgendwann kam ein Auto direkt vor mir zum Stehen und die Scheinwerfer tauchten mich in gleißendes Licht. Erschrocken sprang ich auf und wich zwei Schritte zurück, als ich jemanden in die Dunkelheit fragen hörte: „Manu, bist du das?" „Ja", murmelte ich leise zurück, als mich plötzlich jemand umarmte.

Mein ganzer Körper verspannte sich und ich hielt erschrocken die Luft an, als ich die warme Berührung spürte und ich konnte mich keinen Millimeter bewegen. Der Körper, der sich da an mich drückte gehörte zweifellos Palle, doch diese Berührung war einfach zu viel. Mein Herz spielte verrückt, es wollte Palles Nähe, doch mein Körper wehrte sich verzweifelt gegen die Schockstarre, ich wollte mich losreißen und ihn gleichzeitig festhalten. Abstand zwischen uns bringen, ihn aber trotzdem umarmen. Er sollte mir auf keinen Fall auch nur noch einen Millimeter näher kommen und trotzdem hätte ich ihn gerne an mich gedrückt. Es war ein innerer Kampf. In mir tobte alles, ich kam mir vor, als hätte ich ein verschlingendes Feuer im Körper, das meine Eingeweide zum Kochen brachte, das meinen Verstand benebelte, mir meine Sinne raubte und meinen Brustkorb zuschnürte. Langsam wurde meine Luft knapp, ich zwang mich dazu, nach Atem zu ringen und dabei stieg mir Palles angenehmer Geruch in die Nase. Das brachte mich komplett um den Verstand, doch nachdem ich beim Einatmen ein röchelndes Geräusch von mir gegeben hatte, musste Palle bemerkt haben, dass irgendetwas nicht mit mir stimmte, weswegen er seinen Griff leicht lockerte.

Das Verlangen, ihn wieder zu mir zu ziehen, wurde von einer Welle aus Angst überrollt, sodass ich hektisch einige Schritte rückwärts hechtete, ehe ich mit dem Rücken gegen etwas stieß, das ein Baum sein zu schien. Panisch krallten sich meine Fingernägel in die weiche Rinde und hinterließen tiefe Kratzspuren im makellosen Holz.

Palle kam einige Schritte auf mich zu und mein Körper spielte schon wieder verrückt. Meine Gliedmaßen wollten mich instinktiv in Sicherheit bringen, also aufspringen und flüchten, doch mein Herz unterdrückte den Fluchtinstinkt. Ich wollte diese Nähe noch einmal spüren, aber nicht, wenn sie wieder mit solchen Schmerzen verbunden war.  Und mein Verstand wollte einfach Ruhe. Ich war müde, geschafft vom ereignisreichen Tag und all den neuen Eindrücken der letzten Minuten. Als wir nur noch einen halben Meter voneinander entfernt waren, hörte Palle auf, auf mich zu zu laufen, sondern kniete sich mit besorgtem Blick vor mich hin.

Der Ausdruck, der auf seinem Gesicht lag, eine Mischung aus purem Entsetzen, Angst und Verwirrung brach mir fast das Herz. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass Palle sich Sorgen machte, also setzte ich mich etwas auf und begann leise, mit brüchiger Stimme zu reden: „Es tut mir leid. Ich hätte dich vorwarnen müssen. Ich hab eine Sozialphobie. Und wohl auch Berührungsängste. Du hast nichts falsch gemacht, aber es war gerade einfach alles ein Bisschen viel."

Erschöpft ließ ich mich gegen den Baumstamm sinken und sah Palle an. Er hatte sich die Hände vors Gesicht geschlagen und blickte mich geschockt an. Dann fragte er leise: „Willst du trotzdem mitkommen?" Erleichtert sah ich ihn an und nickte nur, ehe ich mich aufrappelte und ihm zum Auto folgte.

Kürbistumor - Küss mich!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt