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»Guten Morgen, Maisha.«

»Mama!« Freudig schaute ich hinauf zu meiner Mutter, die neben meinem Bett stand. Doch sofort kamen mir wieder die Geschehnisse des letzten Abends in den Sinn und meine Miene verschlechterte sich.

»Wie geht es dir?«, fragte sie nichtswissend.

»Ich glaube das Fieber ist wieder angestiegen.«

»Oh, ich mache dir sofort neue Wadenwickel und hole einen kalten Waschlappen für deine Stirn.« Eilig bewegte sie sich Richtung Tür.

»Nein, Mama. Bleib hier. Bitte«, bat ich mit leiser Stimme.

Sofort drehte sie sich wieder um und kam auf das Bett zu. »Was denn, Schatz?«

Ich nahm den Brief in die Hand, den ich auf dem Nachttisch abgelegt hatte, und wollte ihr die Nachricht von Kuro zeigen. Doch in dem Umschlag befand sich nur noch die Rechnung. Das war alles.

»Der Brief! Er war hier drin!«, rief ich verzweifelt.

»Was für ein Brief denn?«

»Kuro hatte diesen Brief geschrieben. Seinetwegen habe ich das Fieber. Ich werde daran sterben - das Fieber, es wird mich umbringen.«

Mit besorgter Miene ließ sich meine Mutter auf dem Schreibtischstuhl nieder. »Wer ist dieser Kuro? Der Typ, den du hier im Haus gesehen hast?«

»Ja. Er hatte mir diese Nachricht geschrieben. Doch jetzt ist sie nicht mehr da! Er muss sie mitgenommen haben. Gestern war sie noch hier!« Ich hatte mich kaum noch unter Kontrolle.

»Maisha, das hatten wir doch schon mal. All das sind typische Anzeichen von Fieberträumen. Du träumst Dinge, die du von der Realität nicht auseinander halten kannst, beides vermischt sich und du bist total durcheinander. Wir sollten dringend zum Arzt gehen.«

Ich wurde wütend. »Du verstehst das nicht! Das sind keine Träume! Ich habe das alles erlebt, das alles ist wirklich passiert!«

»Ich mache mich schnell fertig und dann gehen wir zum Arzt. Keine Widerrede«, sagte meine Mutter streng und verließ den Raum.

Erneut fielen meine Lider zu und ich konnte gar nicht darüber nachdenken, dass sie nun womöglich für immer geschlossen wären. Doch ich wachte erneut auf.

Diesmal stand Kuro wieder an der Wand angelehnt. »Ich habe mich noch gar nicht von dir verabschiedet.«

»Das hast du doch nie.« Ich musterte Kuro, vielleicht zum letzten Mal, und mir fiel sofort auf, dass etwas anders an ihm war.

»Du hast deine Haare geschnitten.«

»Du hattest Recht, sie waren wirklich zu lang.«

Die neue Frisur stand ihm noch besser als die längeren Haare. Jetzt wirkte er nur noch attraktiver als zuvor.

»Du siehst gut damit aus«, sagte ich ehrlich.

»Aber trotzdem werde ich niemals an die Schönheit einer Unschuldigen herankommen.«

Einen Moment herrschte Stille und es war ganz ungewohnt, dass Kuro keine komische Bemerkung einwarf, sondern einfach nur schwieg.

»Nun, ich muss jetzt gehen. Du wirst auch bald gehen müssen, nämlich in den Himmel. Vielleicht wirst du dort zu einem Engel und stattest der Erde irgendwann einen Besuch ab. Ich würde mich freuen, dich wieder zu sehen.« Er machte eine kurze Pause, in der er auf mich zu kam. »Du wirst immer in meiner Erinnerung bleiben, Masiha.«

Seine Hand strich mir über die Wange und zum letzten Mal sahen wir uns intensiv an, dann drehte er sich um, trat durch die Tür und meine Mutter kam stattdessen herein.

»Wir können jetzt los, wenn du soweit bist«, erklärte sie, doch ich hörte ihr gar nicht zu.

»Mama, ich liebe dich und werde dich immer lieben. Genauso wie Papa und den Rest der Familie. Ich bin euch allen so dankbar, dass ihr mir dieses Leben geschenkt habt.«

Mit einem Mal war ich total wach und bei mir.

»Maisha, das hört sich an, als würdest du sterben. Wir gehen doch bloß zum Arzt, dann geht es dir wieder besser.«

»Ich werde ein Engel, hat er gesagt«, murmelte ich. Lächelnd stellte ich mir vor, wie mir zwei weiße Flügel aus dem Rücken wuchsen.

Meine Mutter kam auf mich zu und wollte sich setzen, doch ihr Blick fiel auf den Schreibtisch und hielt sie davon ab. »Was ist das?«

Sie hielt eine schwarze Strähne hoch und starrte sie perplex an.

Mein Lächeln wurde breiter. »Kuro. Er war hier, das habe ich dir doch gesagt. Er war die ganze Zeit hier. Es war kein Traum.«

Und mit den Gedanken an Kuro, seine Haare und den Engel, der ich bald sein würde, schlief ich ein.

Das Schwarz holte mich ein und ich wusste, es würde mich nie wieder loslassen.

***

Dies ist das Ende der Geschichte, morgen folgt dann noch ein Nachwort. Danke für all eure Bewertungen! Die nächste Geschichte wird "20 Words #4" sein, die in einigen Tagen startet.

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