Epilog

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Mit verschwitzen Händen sitze ich auf meinem Platz und warte darauf nach vorn zu gehen. Mamá und Papá sind noch dabei ihre Rede zu halten. Rechts von mir sitzt mein Bruder, links von mir Jimena. Ohne die beiden würde ich das hier nicht schaffen. Auch unsere Freunde, die auf den Reihen hinter uns sitzen unterstützen uns, wo sie nur können. So gemein das auch ist, aber meinen Eltern höre ich nicht zu. Ich wäre sonst bestimmt schon in Tränen ausgebrochen. Ich schalte auf Durchzug, bis die beiden sich auf ihre Plätze begeben, mit Tränen in den Augen. Dann stehe ich auf und gehe nach vorn.
"Hallo...ehm naja, ich bin bis jetzt eigentlich noch immer nicht auf das vorbereitet und habe dementsprechend auch keine Rede oder so geschrieben. Denn genauso unerwartet wie das hier ist, kam auch Ámbars Tod" beginne ich und blinzle ein paar mal, um die aufsteigenden Tränen zu verhindern.
"Sie hat mich in ihrem Abschiedsbrief regelrecht gezwungen hier was zu sagen, denn ich bin immer ehrlich und Mamá und Papá verschleiern und verschönern gern alles, auch ihren Charakter"
In allen Anwesenden finde ich ein kleines Grinsen wieder. Das ist Ámbar, sie meint das alles so, wie sie es geschrieben hat.
"Tja was soll ich sagen? Die Jahre, die ich mit meiner Schwester verbringen durften waren nicht immer leicht. Oftmals war sie launisch und hat aus jeder Mücke einen Elefanten gemacht. Sie hat sich in der Schule mit jedem Lehrer angelegt, selbst mit dem Direktor ohne irgendeine Angst, das was passieren könnte. Ich habe sie bewundert für ihren Mut. Mit ihrer großen Klappe hat sie sich nicht nur Freunde gemacht, aber das war ihr vollkommen egal. 'Ich hab ja dich!'. Das hat sie so oft gesagt. Sie hat mich als ihren Rückhalt bezeichnet, aber eigentlich war sie meiner"
Ich schaue einmal in die Menge und entdecke schon viele Tränen. Ich atme kurz durch, ehe ich weiterspreche. 
"Ich soll hier ja nichts verschönern oder die Wahrheit vertuschen, aber Ámbar war der liebste Mensch auf Erden. Kaum einer wird es mir glauben, aber sie hat für all ihre Freunde und ihre Familie die Hand ins Feuer gelegt. Mehr als nur einmal hat sie mich vor dummen Fehlern bewahrt. Sie hat mir ins Gewissen geredet und mich immer unterstützt. Ohne sie würde ich vermutlich jetzt hier liegen und ihr würdet über mich reden"
So langsam bilden sich auch bei mir Tränen. Die Gedanken an meine Schwester zerstören mich. 
"Keine blöde Rede könnte meiner Schwester jemals gerecht werden. Meine Worte könnten niemals das ausdrücken, was Ámbar für mich ist. Sie ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben und ich wünschte ich hätte das hier nicht tun müssen"
Weiter kann ich nicht reden, denn meine Stimme bricht ab. Hemmungslos breche ich auf der kleinen Bühne zusammen. Um mich herum nehme ich nichts mehr wahr. Meine Beine ziehe ich an meine Brust, ehe ich meinen Kopf darauf ablege. Das ist meine Schutzposition. 
"Nico" flüstert meine Freundin und hebt meinen Kopf an.
"Komm, wir gehen raus, frische Luft schnappen" schlägt sie vor und streicht mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich löse mich aus der Starre und stehe mit Jims Hilfe auf. Den Leuten kann ich nicht ins Gesicht schauen, weswegen ich mit gesenktem Kopf meiner Freundin nach draußen folge. Vor der Kirche angekommen reicht sie mir ein paar Taschentücher, mit denen ich mir die Nase putze und die Tränen aus dem Gesicht wische.
"Danke das du mich da rausgeholt hast" bedanke ich mich bei Jim und setze mich auf eine der drei Treppenstufen. Jimena nimmt direkt neben mir Platz und hält mir erneut die Taschentücher hin.
"Danke, geht schon" lehne ich ab und schaue Richtung Himmel. Ich weiß das ich sie hätte beschützen müssen. Ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen.
"Bitte hör auf dich fertig zu machen, es war nicht deine Schuld"
Als könnte sie meine Gedanken lesen. Ich wende meinen Kopf nach links und schaue in das wunderschöne Gesicht meiner besseren Hälfte.
"Wirklich Nico, deine Schuldgefühle zerfressen dich nur. Du hättest nichts tun können, niemand konnte sowas ahnen"
Doch. Ich hatte an dem Abend so ein schlechtes Gefühl. Und ich Idiot bin gegangen, zu dem Zeitpunkt, wo sie mich am meisten brauchte.

Wie jeden Mittwoch warte ich im Auto auf Ámbar. Seit einem halben Jahr geht sie zu einem Psychologen, um die Geschehnisse mit Gastón zu verarbeiten. Er hat sie physisch und psychisch fertiggemacht. Sie wollte mit uns nicht ins Detail gehen. Dafür hat sie jetzt die wöchentlichen Sitzungen. Danach gehen wir jedes mal zusammen essen. Es ist unser Geschwister- Abend. Wir reden nicht über die Therapie. Wir reden lieber über uns. 
"Du bist heute so ruhig, ist sonst alles okay?" frage ich Ámbar, die ungewöhnlich wenig redet.
"Ja, ich bin nur müde. Ich hab heute nicht sonderlich viel geschlafen"
"Falls es dich irgendwie tröstet, ich schlaf momentan auch nicht gut" erwidere ich und meine Schwester beginnt zu lachen.
"Hat Jim immer noch die Grippe?" 
"Ja, oder sie schnarcht mit Absicht so laut" beschwere ich mich über meine Freundin. Ich weiß sie kann nichts dafür, aber es ist die Hölle für meine Ohren. Und jedes mal, wenn ich versuche mich aus dem Bett zu schleichen, um im Wohnzimmer zu schlafen kuschelt sie sich noch stärker an mich und liegt schon halb auf mir, sodass ich nicht gehen kann.
"Was wünscht du dir eigentlich zum Geburtstag?" wechsle ich das Thema, denn in zwei Wochen ist es schon soweit.
"Nichts, momentan habe ich alles" 
Irgendwas ist mit ihr. Sie hat sich immer pompöse Dinge gewünscht und die Verpackungen konnte gar nicht groß genug sein. 
"Bist du dir sicher? Egal was es ist, ich werde es besorgen für dich"
Sie greift über dem Tisch nach meiner Hand.
"Es ist alles gut Nico, wirklich. Ich habe meine Freunde und meine Familie..und vor allem habe ich dich, das reicht mir alles"
"Kann ich dich wenigstens zu einer kleinen Party überreden?" grinse ich und weiß genau das sie nicht ablehnen kann.
"Okay, Aber nur eine ganz kleine" gibt sie mir die Erlaubnis, mit der ich mich zufrieden gebe. 

Gegensätze Ziehen Sich An...Oder Eher AusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt