9 :: Kleiner Mann

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Selten habe ich mich so unwohl gefühlt, wie in diesen Minuten. Aber was hätte ich tun sollen? Mich vor versammelter Mannschaft unbegründet weigern, auf dem einzig freien Stuhl Platz zu nehmen?

Der Einleitung des Lehrers kann ich anfangs nicht folgen, und erwache erst als er mich der Klasse vorstellen will, aus meinen tiefen Gedanken.

"Erzähl uns doch mal ein wenig von dir, Noah. Wo du vor ein paar Tagen noch gelebt hast, wie alt bist du... So etwas halt."

Überfordert fange ich an mich zu räuspern.

"Also... ich bin 17... und ich komme aus einer Kleinstadt über Hamburg."

"Ach wie schön", freut sich der Lehrer, dessen Namen ich noch nicht mitbekommen habe. "Hört sich interessant an. Dann wünsche ich dir jedenfalls alles Gute für dieses Jahr."

"Dankesehr."

Damit ist unser unnötig peinlicher Smalltalk beendet und der Lehrer fängt mit seinem Unterricht an. Mathematik. Das Fach, wo ich mich immer und immer wieder frage: Wer braucht diesen Dreck?!  Ich würde eine Millionen-Wette eingehen, dass ich nie wieder Parabeln, binomische Formeln oder Cosinus-Funktionen in meinem Leben brauchen werde. Nie wieder!

Als Nathan an die Tafel gezwungen wird und seinen Stuhl zurück schiebt, tritt er mir so gezielt auf meinen gebrochenen Fuß, dass ich aufstöhnen muss. Ich bin mir sicher, dass er das mit voller Absicht getan hat. Als alle Aufmerksamkeit auf uns gerichtet war, "entschuldigte" sich Nathan mit den Worten: "Tut mir leid, kleiner Mann. Pass auf, wo du deine Füße lässt." Die Klasse kichert vereinzelt, während der Lehrer nur den Kopf schüttelt.

Kleiner Mann?! Ich bin wenn's hochkommt 5 cm kleiner als du!  Wie gerne ich diese Gedanken aussprechen würde. Aber ich bin zu feige.

Erleichterung macht sich in mir breit, als die Pausenglocke leutet. Jetzt brauche ich frische Luft. Geschätzte 3/4 der Klasse verfolgen den selben Gedanken und machen sich ebenfalls auf den Weg nach draußen. Wenig später, nachdem ich mich alleine auf eine Bank gesetzt hatte, gesellt sich ein Junge aus meiner Klasse dazu.

"Hey. Ich bin Jonas", fängt er an.

"Hi", antworte ich völlig einsilbig, aber nicht abweisend.

"Siehst du die dort vorne?", fragt er mich.

Er zeigt auf eine Gruppe von 5 Personen, die lässig an der Wand neben dem Eingang lehnen. Ich erkenne Nathan und noch vier andere, die ich bisher nicht kennengelernt habe.

"Was ist mit denen?", frage ich neugierig.

"Von denen würde ich mich echt fernhalten. Nur ein kleiner Tipp, weil du ja neu hier bist."

Kaum hat er diese Sätze ausgesprochen, verschwindet er so schnell, wie er aufgetaucht ist. Völlig verdutzt lässt er mich auf der Bank zurück. Plötzlich merke ich jedoch, dass die 5er-Gruppe Kurs auf mich nimmt. Da mir die Situation nach diesem Gespräch zugegebener Maßen etwas Panik bereitet, stehe ich auf und stolpere auf meinen Krücken davon. Allerdings in die völlig falsche Richtung, wie sich später herausstellt.

***

Panisch verschwinde ich hinter die Turnhalle unseres Internats, wo ich plötzlich völlig einsam und auf mich allein gestellt bin. War offensichtlich nicht meine klügste Entscheidung gewesen. Hilflos und überfordert presse ich meinen Rücken so nah es geht an die Turnhallenwand. Was ganau mich so extrem in Panik versetzt, weiß ich selbst nicht. Irgendwie habe ich kein gutes Gefühl bei der Sache.

Nur wenige Sekunden später bekomme ich meinen erwarteten, dennoch ungebetenen Besuch.

"Na, kleiner Mann?", fängt Nathan an. "Wie ist er so, dein erster Schultag?"

"Ganz okay...", antworte ich verunsichert.

Nathan grinst künstlich und nickt seinen 4 Kollegen, die wahrscheinlich aus der Parallelklasse kommen, zu. Auf dieses Kommando hin, entreißen sie mir meine Krücken, sodass ich unterwürfig auf allen Vieren lande. Wie kann sich ein Mensch innerhalb einer Nacht so verändern?  frage ich mich selbst. Als hätte Nathan diesen Gedanken gehört, tritt er mir kurz darauf mit voller Wucht in den Bauch. Für kurze Zeit bekomme ich Atemnot.

"Du fühlst dich also wohl bei uns?", will Nathan sich vergewissern.

Ich kann nicht antworten. Sprechen wäre in meinem jetzigen Zustand garantiert anstrengend und schmerzhaft. Plötzlich zieht mir einer der anderen an den Haaren, um meinen Blick zu heben.

"Du wurdest etwas gefragt!", brüllt er mich an.

Ich hatte noch nie solche Angst. Als Bestrafung, dass ich nicht antworte, bekomme ich einen weiteren Tritt in die Magenkuhle, weswegen ich nun komplett zusammensacke. Nathan geht in die Hocke und sieht mich ernst an.

"An deiner Stelle würde ich mich hier an die Regeln halten. Und damit meine ich nicht die Schulordnung."

Mit diesen Worten verschwinden sie. So wie Nathan es schon heute morgen tat. Ich liege wimmernd und verschmutzt auf dem staubigen Boden.

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