Ich versuche durch meine glasigen Augen das Ziffernblatt auf meiner Armbanduhr zu erkennen. Wenn ich mich nicht täusche, habe ich noch zweieinhalb Minuten um in der Klasse zu sitzen. Zitternd versuche ich mich aufzurichten. Meine Krücken liegen zum Glück in Griffweite. So schnell es die Umstände ermöglichen, bewege ich mich in Richtung Seiteningang fort. Glücklicherweise hat dieser keine Stufen.
Bevor ich mich auf den Weg in die Klasse mache, mache ich noch mal einen Abstecher auf die Toilette. Eilig wasche ich mir den Staub aus dem Gesicht und klopfe meine Kleidung aus. Während ich mein Gesicht im Spiegel betrachte, überlege ich mir eine Ausrede.
Als ich vor unserem Klassenraum stehe, nehme ich all meinen Mut zusammen und klopfe. Als ich die Tür öffne und gerade mit "Entschuldigung Herr..." ansetze, unterbricht mich der Lehrer.
"Alles gut. Ich weiß schon Bescheid. Nathan hat mir bereits erzählt, dass du dich hier noch nicht so gut auskennst und die Wege noch nicht abgespeichert hast. Aber das ist kein Problem."
Mal wieder völlig mundtot geredet, nicke ich stumpf und setze mich auf meinen Platz. Innerlich platze ich gefühlt. Vor Wut und Ungerechtigkeit. Die Wege habe ich bereits sehr wohl abgespeichert. Ich bin doch nicht bescheuert! Aus dem Augenwinkel sehe ich schon wieder Nathan's dreckiges Lächeln. Das Lächeln, in das ich gestern noch verliebt war. Er scheint sich prächtig über meinen Unmut zu amüsieren.
Auch diese zwei Unterrichtsstunden vergehen ohne jegliche Anteilnahme meinerseits. Das passt eigentlich gar nicht zu mir, aber hier scheint alles anders zu werden. Einfach habe ich mir mein Leben hier nie vorgestellt. Aber dass es nun in einer Katastrophe endet, schockiert selbst mich. Wahrscheinlich bin ich einfach zu lieb für diese Welt. So wie es mir mein Vater schon immer gesagt hat.
Nach weiteren fünf Minuten "Rumgedöse", ist mein erster Schultag endlich vorbei. Ich will gerade als Letzter den Klassenraum verlassen, als mich mein Lehrer bittet, noch einen "kurzen Augenblick" zu warten.
Ich setze mich vor seinen Pult und promt beginnt er: "Ich wollte nur mal kurz horchen, wie du dich bei uns eingelebt hast. Teilweise habe ich den Eindruck, dass du dich vom Rest der Klasse noch etwas fernhälst."
"Naja also... Ich denke nach dem ersten Schultag, ist das auch noch nicht so leicht anzuknüpfen... Zumindest nicht für mich. Aber mit der Zeit... wird das bestimmt."
"Jaa... Sehr gut möglich. Und wenigstens mit Nathan scheinst du dich ja schon ganz gut zu verstehen."
Am liebsten würde ich ihm in diesem Moment die ganze Wahrheit erzählen, aber das würde mir nur noch mehr schaden. Deswegen stimme ich ihm einfach zu.
"Na dann... Ich will dich hier auch nicht aufhalten. 'Nen schönen Tag wünsche ich dir noch."
"Danke, wünsche ich Ihnen auch."
Wenigstens die Lehrer sind an diesem Internat, allem Anschein nach, freundlich. Ich frage mich was ich jetzt tun soll. Mehr als nur ungerne will ich ins Zelt, denn ich weiß genau, wer da außer mir noch sein wird. Andererseits fällt mir keine Alternative ein. Ich kann ja schlecht den Rest meiner Internatszeit im Klassenraum verbringen. Also los...
Vorsichtig öffne ich den Reißverschluss, trete ein und tue so, als könne ich niemanden der Anwesenden wahrnehmen. Aber ich spüre ihre Blicke in meinem Nacken.
Ich lege mich auf mein Feldbett und drehe ihnen den Rücken zu. Gerade will ich mein Handy entsperren, kullern bereits die ersten Tränen. Ich wusste, dass das passieren würde. Und ich hasse mich dafür. Kann ich nicht einmal in diesem verschissenen Leben stark sein?
"Verzieht euch mal für ne Weile."
Ich zucke zusammen. Hat Nathan das gerade wirklich zu Alec und Zee gesagt? Was hat er vor?
Ich höre, wie die Beiden den Reißverschluss hinter sich schließen. Fast zeitgleich das Knirschen von Nathan's Bett. Anhand seiner Schritte bemerke ich, dass er auf mich zukommt. Prophylaktisch schließe ich meine Augen und spanne jedes einzelne Körperteil an. Ich rechne mit dem Schlimmsten. Nahezu geräuschlos setzt Nathan sich auf meine Bettkante. Was wird das?!
"Weinst du?", fragt er mich.
Ich kann es nicht fassen. Tut er jetzt wirklich so, als würde er sich Sorgen um mich machen?! Kurz nachdem er mich windelweich geprügelt hat?! Auf eine Antwort kann er lange warten.
"Ich kann dich verstehen. Und auch, dass du mich nicht verstehen kannst. Was ich sagen will... es tut mir wirklich leid."
Ich glaube ihm kein Wort. Nicht nach dem heutigen Tage.
"Bitte... Sieh mich an."
Seit wann ist Nathan eigentlich so sentimental? Er lässt doch sonst immer den Harten raushängen?
"Ich liebe dich!"
Was hat er gerade gesagt?! Ich muss mich verhört haben. Wütend
drehe ich mich um und sehe ihn verständnislos an."Nathan, du hast mich heute verprügelt. Wie kannst du jetzt sagen, dass du mich liebst?" wimmere ich und breche komplett in Tränen aus.
"Weil es die Wahrheit ist, Noah." Plötzlich richtet er meinen Kopf vorsichtig in seine Richtung und sieht mir tief in die Augen. So wie er es gestern noch tat.
"Weil es die Wahrheit ist", wiederholt er. Ich wimmere immer lauter, auch wenn ich genau das Gegenteil versuche.
"Ich- Ich verstehe das alles nicht...", bringe ich schließlich jammernd hervor. "Das ergibt doch... gar keinen Sinn..."
"Was heute passiert ist... ich wollte das nicht. Wirklich nicht!"
"Wieso hast du es dann getan?" Hektisch wische ich mir meine Tränen aus dem Gesicht.
"Wenn das mit uns Beiden ans Licht kommt, habe ich einige Probleme... Ich wollte mich mit der Aktion heute selbst schützen. Aber ich habe einen Fehler gemacht. Einen großen."
"Was für Probleme?"
"Probleme mit meinen Jungs. Die Probleme, die man eben hat, wenn man offen schwul oder bisexuell lebt."
"Und deswegen hast du mich verprügelt?!" Gerade wollte ich mich beruhigen, als alles wieder hochkommt.
"Es tut mir wirklich unendlich leid" fährt er fort. "So etwas passiert nie wieder. Das verspreche ich dir hoch und heilig."
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New Boy
AdventureNoah ist bisexuell. Niemand weiß davon. Als seine Eltern ihn eines Tages auf ein Jungeninternat schicken und er dort das erste Mal auf seine Zimmergenossen stößt, wird ihm schnell klar, dass er sein Geheimnis früher oder später lüften wird. Es begin...