Teil 4

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John:




Ich ließ ihn für den Rest des Abends in Ruhe. Offensichtlich wollte er nicht darüber reden. Nun gut.
Einen winzigen Augenblick überlegte ich, mit Mycroft über die Angelegenheit zu sprechen, aber das wäre doch ein großer Vertrauensbruch gewesen, und so verwarf ich den Gedanken sofort wieder. Außerdem, na ja, mag ich Mycroft nicht besonders.
Immer wieder wanderte mein Blick zu dem Gesicht meines Freundes. Er schien inzwischen tief in seinem Gedankenpalast versunken zu sein, denn er sah hochkonzentriert aus, hatte die Augen geschlossen und bewegte sich keinen Millimeter.


Ich hatte ein Buch auf den Knien, doch ich konnte mich nicht auf den vor mir liegenden Text konzentrieren. Es war ein Thriller, und gerade küssten sich der Mörder und sein zukünftiges Opfer.
Na toll.
Genau das, was ich jetzt brauchte.
Seufzend schlug ich das Buch zu, sagte Sherlock „Gute Nacht!", ohne zu erwarten, dass er darauf reagierte, was er auch nicht tat, und ging hinauf auf mein Zimmer.


Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Meine Träume waren ein wildes Gewirr aus Küssen, Sherlocks Lippen, den Lippen meiner letzten Freundinnen, blutige Messer zückenden Mördern und Donovans gehässigem Lachen.
Als ich am anderen Morgen erwachte, war ich schweißgebadet und unausgeschlafen.


In den nächsten Tagen redeten wir relativ wenig miteinander. Ich selber hatte viel zu tun. Die Grippewelle hatte auch im Krankenhaus, in dem ich nebenher arbeitete, zugeschlagen, so dass einige meiner Kollegen ausfielen und ich gebeten wurde, zusätzliche Schichten zu übernehmen. Natürlich sagte ich zu uns sprang ein.
Sherlock war ebenfalls viel unterwegs. Eine SMS meinerseits an Lestrade ergab, dass der Yard momentan keinen Fall hatte, an dem Sherlock beteiligt war. Er schien also private Klienten angenommen zu haben und war kaum zu Hause. Normalerweise bat er mich auch bei solchen Fällen immer, mit ihm zu kommen und war dann wahlweise sauer oder enttäuscht,wenn ich das auf Grund meiner Dienste im Krankenhaus nicht konnte.
Diesmal hatte er mich nicht gefragt.


Und wenn er zu Hause war, arbeitete er in der Küche, die man vielleicht lieber als Labor bezeichnen sollte oder versank in seiner Gedankenwelt.
Er wich mir aus. Ganz eindeutig.
Ich konnte es ihm nicht einmal übelnehmen.
Und so fühlte ich mich zunehmend schlechter ihm gegenüber, hatte ein richtig schlechtes Gewissen und das deutliche Gefühl, dass ich irgendetwas unternehmen müsste.
Schließlich wollte ich, dass unsere Freundschaft nicht darunter litt, dass Sherlock, nun, noch ungeküsst war und ich ihn dafür ausgelacht hatte.


Etwas unternehmen. Gut und schön.
Aber was?
Ich hatte einfach keine Ahnung. Nicht die geringste Idee.


Ein paar Tage später saß ich beim Frühstück. Ich hatte Tee gemacht, aß dazu Toast und Marmelade und genoss die Tatsache, heute zum ersten Mal seit fast zwei Wochen wieder einen Tag frei zu haben.
Da stürmte Sherlock aus seinem Zimmer, das Handy am Ohr. Er schien mit Lestrade zu diskutieren, und wie es aussah, hatte der einen Fall, bei dem er Sherlocks Hilfe benötigte.
„Ja, Graham... Entschuldigung, dann eben Greg... ja, ich ziehe mich eben an und dann komme ich... Nein ich nehme ein Taxi... Nein, der kommt nicht mit, der hat Dienst im Krankenhaus. ... Ja, bis gleich."
Er warf das Handy auf das Sofa, schnappte sich ein Hemd, das aus unerfindlichen Gründen ebenfalls dort gelegen hatte und stürmte wieder zurück in Richtung seines Zimmers.
Er hatte keine Anstalten gemacht, mich zum Mitkommen aufzufordern.
Ich schluckte schwer.
Als er gerade seine Tür öffnete und in seinem Schlafzimmer verschwinden wollte, rief ich ihm hinter her:
„Ähm, Sherlock?!"
Er drehte sich zu mir um.
„Ja, John?"
„Ich habe heute keinen Dienst im Krankenhaus."
Er zögerte einen winzigen Moment.
„Das ist schön, dann genieße mal den freien Tag. Ruh dich aus, du hast viel gearbeitet. Ach, und falls du einkaufen gehst, wir brauchen Milch, Petrischalen, doppeltkohlensaures Natron, Gummimuffen in zwei Zoll Durchmesser und eine Ausgabe von Robinson Crusoe, auf Gälisch."
Und er knallte die Tür hinter sich zu.


Okay.
Wie es schien, wollte er mich nicht dabei haben.
Anscheinend hatte ich ihn sehr verletzt.
Ich fühlte mich ausgesprochen unwohl in meiner Haut.
Kurz nachdem Sherlock mit wehendem Mantel verschwunden war, bekam ich einen Anruf, mit der Bitte, doch noch eine weitere Schicht zu übernehmen. Ich war dankbar dafür, denn zu Hause wäre mir an diesem Tag die Decke auf den Kopf gefallen.
Ich fuhr also mit der Tube zur Klinik und kümmerte mich den Rest des Tages um triefende Nasen, krächzende Kehlköpfe und den ein oder anderen gebrochenen Knochen.
Ich machte nur eine Kurze Teepause am Nachmittag, gemeinsam mit einer Kollegin, die die ganze Zeit plapperte und mich damit recht gut von meinen Sorgen ablenkte.


Aber schließlich war auch dieser Dienst vorbei und ich machte mich auf den Weg nach Hause in die 221 B Baker Street. Und je näher ich mich meinem, unserem zu Hause näherte, desto mehr kehrten meine Gedanken wieder zu Sherlocks zurück, und zu dem im Moment etwas unklaren Status unserer Freundschaft.
Und zu dem jungfräulichen Zustand von Sherlocks Lippen.
Und als ich schließlich wieder die Treppen zu unserer Wohnung hin auf lief, da hatte ich einen Entschluss gefasst.

First KissWo Geschichten leben. Entdecke jetzt