Teil 8

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  John:





Du meine Güte, was hatte ich da nur getan.
Ich lag auf dem Bett in meinem Schlafzimmer, hatte die Arme im Nacken verschränkt und dachte nach. Wie zum Teufel war ich nur dazu gekommen, Sherlock zu küssen?
Ich seufzte.


Aber viel wichtiger war die Frage, was ich nun tun konnte, um das wieder in Ordnung zu bringen.
Sherlock war mir unglaublich wichtig. Die Freundschaft mit ihm bedeutete mir sehr viel. Wir hatten zusammen so viel durchgemacht.
Als ich damals aus Afghanistan zurück gekehrt war, hatte ich mich im zivilen Leben nicht mehr zurechtgefunden. Die Langeweile, die Ereignislosigkeit gepaart mit schweren Alpträumen, die aus meinem posttraumatischen Stresssyndrom resultierten, hatten mich an den Rand dessen gebracht, was ich zu tragen in der Lage war.
Meine alte Dienstwaffe hatte in der Schublade quasi nur noch auf ihren Einsatz gewartet. Mehr als einmal hatte ich sie in der Hand gehalten und erwogen, Schluss zu machen.
Dann war Sherlock in mein Leben getreten. Mit der Kraft eines Wirbelwindes war er über mich hinweggefegt und von einem Tag auf den anderen wohnte ich zusammen mit einem selbsternannten Soziopathen, war verstrickt in Abenteuer, jagte Verbrecher durch Londons Gassen und hatte einen Freund, der so einzigartig war, dass es mir manchmal erschien, als sei das alles nur ein Traum.


Und nun lag ich hier und hatte das dumme Gefühl, mit meiner unbedachten Handlung diese ungewöhnliche Freundschaft gefährdet zu haben.
Was also sollte ich tun?
Mit ihm reden. Das würde wohl das beste sein. Aber... was sollte ich sagen?
„Hör mal, Sherlock, es tut mir leid, dass ich dich einer unwiederbringlichen Erfahrung beraubt habe, nämlich den ersten Kuss von dem Menschen zu bekommen, der dich liebt und den du liebst. Können wir dann bitte zur Tagesordnung übergehen?"
Nein, ganz sicher nicht.


Irgendwann hörte ich die Tür seines Schlafzimmers rappeln.
Er war also auch schlafen gegangen. Na ja, schlafen war bei ihm relativ...
Ich seufzte erneut.
Ich stellte ihn mir vor, wie er auf seinem Bett lag. Seinen wilden Mopp schwarzer Haare verwuschelt. Die Augen, die sonst so blitzten, geschlossen. Die sinnlichen weichen Lippen...


Moment mal.
Ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein, war ich aus dem Bett aufgestanden und hatte die Klinke meiner Tür in der Hand.
Meine Wangen fühlten sich heiß an, mein Herz klopfte wie verrückt.
Und meine Lippen kribbelten.
Was zum Henker ging hier vor?


Und in dem Augenblick durchfuhr es mich wie ein Blitz: Auch wenn mein Hirn begriffen hatte, dass ich nicht auf Männer stand, war mein Herz ganz offensichtlich ganz anderer Meinung. Nun, zumindest was diesen einen Mann betraf.
Ich stand hier, mit einem wilden Pochen und einem sehnsuchtsvollen Ziehen in der Brust und alles in mir schrie danach, jetzt diese Treppen hinunter zu laufen, die Tür zu seinem Zimmer zu öffnen, mich zu ihm zu setzen, mit der Hand durch seine Haare zu fahren und seine Lippen erneut mit den meinen zu verbinden.


Und dann traf es mich wie ein Keulenschlag.
Sherlock hatte den ersten Kuss eben doch von dem Menschen bekommen, der ihn liebte.
Mein Kopf wollte es nicht recht begreifen, aber ich konnte es nicht mehr bestreiten. Ich war in Sherlock verliebt.


Ich begann zu zittern und meine Knie wurden weich. Meine Beine wären mir beinahe weg geknickt, ich schaffte es gerade noch so, mich auf das Ende meines Bettes zu setzen.
Ich brauchte eine ganze Weile, um mit dieser neuen Erkenntnis zurecht zu kommen.


Als ich mich etwas beruhigt hatte, wurde mir bewusst, dass das die Situation nicht gerade vereinfachte, sondern eher noch komplizierter machte.
Denn ganz offensichtlich empfand Sherlock für mich nicht das gleiche.
Um genau zu sein, war zu bezweifeln, dass er überhaupt so etwas wie verliebt sein empfinden konnte, hatte er dergleichen doch oft genug als chemischen Defekt bezeichnet, und er schien sich mit seinem Bruder Mycroft einig zu sein, dass Gefühle nur auf der Seite der Verlierer zu finden sind.
Verdammt.


Mir blieb also wahrhaftig nur, zu versuchen, unsere Freundschaft zu retten und die Gefühle, die ich für ihn empfand, in meinem Herzen zu verschließen.
Wieso musste so etwas nun wieder ausgerechnet mir passieren?
Ich seufzte erneut und öffnete die Tür meines Zimmers.
Dann begann ich langsam, Schritt für Schritt, zögernd die Treppe hinab zu gehen.
Vor der Tür seines Zimmers blieb ich stehen.


Sollte ich oder sollte ich nicht?
Ich fuhr mir unsicher durch die Haare. Meine Augen schweiften durch den Raum und blieben an dem gelben Smiley an der Wand hängen, dem mit den Einschusslöchern.
Soll ich oder soll ich nicht?
Ich zählte an den Einschusslöchern ab.
Soll ich?
Soll ich nicht?
Soll ich?
Soll ich nicht?
Soll ich?


Es waren fünf Löcher.
Ich wusste, dass es fünf Löcher waren.
Also war klar, dass ich bei „Soll ich?" hängen blieb.
Wem versuchte ich also etwas vorzumachen?
Ich holte tief Luft, wappnete mich und klopfte leise, aber vernehmlich an Sherlocks Tür.

First KissWo Geschichten leben. Entdecke jetzt