Teil 6

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John:



Ich fand Sherlock auf dem Sofa vor. Er schimpfte mal wieder über irgendeine besonders bescheuerte Sendung des frühen Abendprogramms. Meine Güte, es war einfach keine Gute Idee gewesen, ihn mit schlechtem TV bekannt zu machen... andererseits gebe ich zu, dass ich es niedlich fand, wenn er mit gekrauster Stirn und blitzenden Augen ein paar wirklich dumme Kandidaten einer unterirdisch schlechten Quiz-Show beschimpfte.
Hatte ich gerade „niedlich" gedacht? Mein liebes Gehirn, würdest du dich bitte wieder daran erinnern, dass ich auf Frauen stand? Danke!


Er löste den Blick vom Bildschirm und wandte ihn mir zu.
Ich sah, wie sein Blick über mich glitt, und war mir sicher, dass er mich deduzierte, um herauszufinden, wo ich gewesen war.
Und ich hatte Recht.
„Guten Abend John, wie ich sehe hast du eine weitere Schicht übernommen, und dein Dienst war nervtötend, aber nicht über die Maßen anstrengend? Die Tube war erschreckend voll, du hattest keinen Sitzplatz und hast neben einer äußerst hübschen jungen Frau gestanden, die sich hin und wieder mehr als nötig an dich gedrückt hat. Und nun bist du hungrig."
„Woher..." setze ich zum Fragen an, sagte dann jedoch: „...ach vergiss es. Ja, du hast recht."


Ich hatte meine Jacke aufgehängt und meine Schuhe abgestellt.
Jetzt trat ich näher an das Sofa heran und zögerte. Eben, vor der Tür, war ich noch fest entschlossen gewesen, aber jetzt, wo ich ihn hier vor mir sah, kam ich wieder ins wanken.
Sollte ich es wirklich....?
Ich trat noch einen Schritt näher.
Er sah mich fragend an.
„John, wenn du dir in der Küche ein Sandwich machst, für mich bitte nur Tee und Biskuits."
Ich machte keine Anstalten, in die Küche zu gehen.
Ja, ich hatte Hunger, aber der schien mir jetzt nicht wichtig.
Er wurde unruhig. Seine wunderschönen Augen blitzten. Er schien mit sich zu ringen, hatte offensichtlich irgendetwas vor, schien seinerseits zu einem Entschluss kommen zu wollen. Dass ich hier so vor ihm stand, nichts sagte und langsam näher kam, entschlossen und unentschlossenen zu gleich, schien ihn massiv zu irritieren.


Ich holte tief Luft.
Noch ein Schritt näher.
Komm schon, John Watson, du bist kein Feigling. Du bist ein Mann. Und er vertraut die wie keinem sonst. Wer also, wenn nicht du?
Noch ein Schritt näher. Jetzt stand ich nur noch einen Fingerbreit von ihm entfernt. Immer noch sah er mich an mit tausend Fragen im Blick.
Ich ließ mich auf die Knie sinken, sodass mein Gesicht auf Höhe des seinen war, und dann beugte ich mich vor und ...
...küsste ihn.
Ich berührte ganz sanft seine Lippen mit den meinen. Ganz vorsichtig, so dass er Spielraum hatte, sich zurück zu ziehen, wenn ihm das zu viel wurde. Bereit, jederzeit zur Seite zu rutschen, damit er an mir vorbei stürmen könnte.


Mein Herz klopfte ziemlich schnell. Immerhin tat ich gerade etwas, was dazu führen könnte, dass mein Freund Sherlock Holmes richtig wütend auf mich werden würde.
Ich hatte ihm ungefragt seinen allerersten Kuss geschenkt.


Zuerst bewegte er sich nicht, saß da, wie erstarrt.
Ich hatte meine Lippen wieder von seinen gelöst, doch dann war er mir ganz leicht, fast unmerklich entgegen gekommen. Also küsste ich ihn erneut. Bewegte meine Lippen ein wenig, und er schloss die Augen und schien es zu genießen.
Ich genoss es auch.


Dann blitzte ein Gedanke durch mein Gehirn.
'Moment mal, wieso eigentlich genießen? Du wolltest ihm doch nur zeigen, wie ein Kuss sich anfühlt! Er ist immerhin noch ein Mann und du steht nicht auf Männer! Mein liebes Hirn, würdest du das jetzt bitte endlich zur Kenntnis nehmen?'
Mein Hirn jedoch dachte nicht daran.
'Hat doch die Klappe, und genieße es! Das hier ist nicht irgendein Mann, das ist Sherlock!' antwortete es und versetzte mir damit eine ziemlichen Schock.
Ich riss mich erschrocken von den Lippen des schwarz gelockten los.
Was zum Teufel passierte hier gerade?
Nein, nein, nein, ich empfand nichts für Sherlock. Ich empfand nichts für Männer, also auch nichts für Sherlock. Und natürlich hatte ich den Kuss nicht genossen.
Nein!


Sherlock hatte die Augen wieder geöffnet, und der leichte Schleier, von dem sie eben noch überzogen gewesen waren, verschwand.
Klar und hell sahen sie mich an.
Sein Gesicht zeigte die etwas abweisende Miene, die er immer aufwies wenn „irgendetwas mit Gefühlen" geschah.
„John, also bitte, was sollte das? Hast du heimlich eine Kamera installiert? Damit du dich morgen mit Anderson und Donovan noch mehr über mich amüsieren kannst?"
Ich schluckte.
So also dachte er von mir.
Anderseits konnte ich es nicht verübeln. Den ersten Kuss - nun er hätte ihn eigentlich von einem Menschen bekommen sollen, den er von Herzen liebte.
Und der ihn liebte.
Also nicht von mir.
Obwohl...


Ich schüttelte den Kopf. Was hatte ich nur getan. Was hatte ich nur angerichtet.
Ich drehte mich um, lief auf mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir zu und warf mich aufs Bett.
Wütend auf mich selbst.

First KissWo Geschichten leben. Entdecke jetzt