Die halbe Wahrheit

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Schon seit einigen Stunden saßen die alte Mrs. Devany, Lilia und das Mädchen, das vorhin im Klassenzimmer aufgetaucht war, in dem Haus der Familie beisammen und tranken Tee. Das Mädchen hatte vorhin gemeint, sie müssten verschwinden, so schnell wie möglich. Doch während Lilia nicht aufhören konnte Fragen zu stellen, schwieg das Mädchen. Nur ihren Namen hatte sie verraten, sie war eigenartig, doch dennoch vertraute Lilia ihr von Anfang an. Sie hieß Leandra. »Okay.« Lilia ergriff das Wort. »Ich will jetzt wissen, was das vorhin war.« Sie sprach langsam und deutlich. In ihrer Stimme verbarg sich ein Fünkchen Verzweiflung und Angst, wieder keine Antwort zu bekommen. Das Mädchen jedoch rührte nur mit dem Löffel in ihrem Tee um und vermied den Blickkontakt. Der alten Mrs. Devany hatte sie natürlich alles erzählt, was geschehen war, doch sie hielt es für albern. Das bildete sich Lilia nur ein, meinte Mrs. Devany. Obwohl Leandra es bezeugen konnte, schwieg sie. Es schien, als würde etwas gar nicht so laufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. »Sprich doch endlich!«, schrie Lilia sie an und sprang dabei von ihrem Stuhl. Leandra blickte langsam zu ihr auf. »Ich dachte nicht das ich es bin, die dich finden würde.“ Lilia blickte verdutzt. »Mich finden? Warum?«

»Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, wie ich es dir beibringen soll, ohne dass du mich für verrückt erklärst.« - »Ich werde dir glauben, ich verspreche es. Doch sag es mir nun endlich.« Leandra seufzte. »Das, was du Olivia vorhin angetan hast, ist nicht aus Zufall geschehen.« Lilia fing an, im Raum herumzugehen. Die alte Mrs. Devany war überrascht über Leandras Aussage, also hatte es doch gestimmt, was Lilia erzählt hatte. »Warum dann?« - »Weißt du, viele von uns sind schon seit längerer Zeit auf der Suche nach dir. Und glaub mir, das war nicht einfach.« - »Wer sucht nach mir, und warum?« Ihre Stimme klang fast schon ein wenig verängstigt. »Weil du eine Hexe bist.« Augenblicklich wurde es ganz still im Raum und Leandras Stimme hallte noch immer in Lilias Kopf. Lilia begann zu kichern, doch sie hörte schnell wieder auf, als sie in Leandras ernstes Gesicht blickte. »So ein Quatsch!«, meinte die alte Mrs. Devany ärgerlich. »Eine Hexe?«, fragte Lilia. Leandra nickte. »Wir dachten sich, es ginge ganz einfach, dich in unser Dorf zu holen, da keiner deiner Familie im Zauberstammbaum steht und du wahrscheinlich ein Waisenkind bist. Doch an die Tatsache, dass du bei deinen Großeltern leben könntest, hat wohl niemand gedacht.« - »Wie auch immer, Lilia geht nicht fort.« Die alte Mrs. Devany wurde ernst, so wie man sie sonst nie gesehen hatte. »Sie könnten ja mitkommen«, schlug Lilia vor, doch Leandra schüttelte den Kopf. »So leid es mir auch tut, für gewöhnliche Menschen, ist es dort viel zu gefährlich.«

»Wie habt ihr euch das denn vorgestellt? Lilia kann nicht so einfach verschwinden, was soll ich denn den Leuten erzählen?« - »Vergessen, sie werden alle vergessen«, meinte Leandra. Lilia erschien diese Sache unheimlich. »Wie vergessen?« »Wir sind Hexen, weißt du nicht mehr?« Verlegen blickte sie zu Boden. Noch immer konnte sie nicht so richtig realisieren, was an diesem Tag alles schon geschehen war. Manchmal dachte sie sich, es war nur ein Traum, aus dem sie jeden Moment erwachen würde, doch es war zu echt, es war keinesfalls ein Traum. Sie hörte, wie ihre Großmutter seufzte. »Aber ich kann nicht einfach gehen, nicht ohne Großmutter.« - »Genau da liegt das Problem«, meinte Leandra.

Lilia war klar, dass sie ihre Großmutter unheimlich vermissen würde, doch andererseits war sie so neugierig auf diese Welt voller Hexen und Zauberer. Sie konnte ja bis vor einer Stunde kaum ahnen, dass sie auch dazu gehörte. »Ich könnte sie ja öfters besuchen, oder?.« - »Nach dem Vergessens-Zauber wird dich niemand mehr erkennen.“ - »Nicht mal mehr meine Familie?« Leandra dachte nach. Sie wusste, dass es eine Möglichkeit gab, dass manche nicht von dem Zauber getroffen werden konnten, doch sie erinnerte sich nicht mehr daran. »Nun ja, ich habe in der Schule etwas darüber gelernt, doch ich weiß nicht mehr so recht… Hätte ich doch besser aufgepasst«, murmelte Leandra.

»Weißt du was, ich komme morgen wieder, denn ich muss noch bescheid geben, dass ich dich gefunden hab, Lilia. Es tut mir leid, dass ich schon weg muss, obwohl ich dir so vieles noch nicht erzählt habe.« Auf einmal hatte sie es ganz eilig zu verschwinden. Lilia und ihre Großmutter verabschiedeten sich schließlich von Leandra, während Lilia hoffte, sie so schnell wie möglich wieder zu sehen. Tausende von Fragen schossen ihr durch den Kopf. Fragen, die nur Leandra beantworten konnte. Warum gab es so viel über Lilia, das sie nicht wusste? Warum war ihr Leandra nicht früher begegnet? Und gab es wirklich so etwas wie einen Vergessens-Zauber?

Als Leandra durch die Tür verschwunden war, bemerkte Lilia für einen kurzen Augenblick ein grelles blaues Licht, als sie aus dem Fenster sah, doch es erlosch sofort wieder. Fragend blickte sie die alte Mrs. Devany an, diese zuckte auch nur mit den Schultern und seufzte. »Glaubst du ihr?«, fragte Lilia ihre Großmutter. Sie nickte. »Ich weiß, dass ich dich nicht davon abhalten kann zu gehen…« - »Ich werde dich immer besuchen, so oft es geht.«, fiel ihr Lilia ins Wort. »Ich hoffe nur, dass dieser Zauber funktioniert.« Sie nickte.

»Es ist schon spät, geh nun schlafen. Morgen wirst du nicht zur Schule gehen. Wir warten beide hier auf Leandra.« - »Aber ich kann mich nicht einfach drücken, die anderen werden denken, ich habe Angst. Wegen Olivia.« - »Kümmere dich nicht darum, sie werden dich schon bald nicht mehr kennen.« Lilia nickte einsichtig. Sie würde zu Hause bleiben.

Als Lilia nach oben in ihr Zimmer ging, dachte sie viel darüber nach, dass sie hier nicht mehr allzu oft sein würde. Von nun an würde sich alles ändern. Schon jetzt vermisste sie die Gesellschaft ihrer Großmutter, die immer für sie da war. Lilia seufzte. Wie jeden Abend nahm sie noch einmal das Foto, das auf dem Nachtischkästchen lag, in die Hand. Lilia würde es ganz sicher mitnehmen. Nach wenigen Minuten auf ihrem Bett liegend, wurde sie auch schon müde, noch einmal kniff sie sich in den Arm, um sicher zu gehen, dass sie nicht träumte. Doch sie schien noch immer nicht aufzuwachen. Lilia war also wahrhaftig eine Hexe. Mit diesem Gedanken schlief sie an, und das Foto hielt sie in ihrer Hand.

Zauber der ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt