In Gefahr

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Ein schrilles Klingeln ertönte und alle Schüler nahmen ruckartig ihre Plätze ein. Wenige Sekunden später trat auch schon eine ältere, zierliche Frau ein, die wohl die Lehrerin sein musste. Alle standen auf. Eine Sache, die Lilia hier nicht fremd war, denn in der Welt der Normalsterblichen wurde das genauso gemacht. „Guten Morgen, Klasse.“, sagte die Frau mit zittriger Stimme.

„Guten Morgen, Mrs. McGowan.“, antworteten alle Schüler im Chor und setzten sich anschließend wieder hin. Prüfend blickte Mrs. McGowan durch die Klasse, doch als sie Lilia bemerkte, erstarrte sie für einen Moment. „Du musst Lilia sein.“, stellte sie mit einem verschmitzten Lächeln fest, doch ihre Stimme klang ängstlich. Lilia nickte. Der Blick mit dem sie das Mädchen musterte war ihr unheimlich.

„Kinder, ich möchte euch etwas mitteilen. Ihr habt bestimmt schon alle über das Verschwinden des Königspaares, Lyrelle und Jeffron gehört.“ Ihre Stimme klang spöttisch, als würde sie nicht glauben, dass ihnen etwas Schlimmes passiert war. Als würden sie alles nur inszeniert haben, um vor den Gefahren untertauchen zu können. „Mrs. McGowan, soll das etwa heißen, Sie glauben nicht, dass Khyron etwas damit zu tun hat?“ – „Natürlich nicht. Sie hatten Angst, wussten, dass sie diesmal zu schwach waren um Khyron und seine Armee zu besiegen.“ Großes Entsetzen machte sich in den Gesichtern der Kinder breit, sie fingen wieder an zu tuscheln. Leandra meldete sich zu Wort. „Das stimmt nicht. Lyrelle und Jeffron hatten keine Angst, vor nichts und niemanden. Sie waren mutiger und stärker als jeder andere hier. Ja, sogar stärker als Khyron. Ich bin mir sicher, sie wissen genau, was sie tun, um uns beschützen zu können, denn sie wollen nur das Beste für uns. Es wird sich alles zum Guten wenden.“

Mrs. McGowan seufzte und schüttelte langsam mehrmals ihren Kopf. „Es ist ja schön und gut, dass du deinen Optimismus in dieser Situation bewahrst, aber ich habe hierbei starke Zweifel.“, antwortete sie. Bevor jemand noch dieser Sache etwas hinzufügen konnte, fuhr sie fort. „Nun, was ich euch eigentlich mitteilen wollte, war, dass es nun sehr gefährlich ist, da nun auf uns allein gestellt sind. Das Dorf ist verwundbar und Khyron weiß mit Sicherheit schon davon.“

„Ja natürlich, weil er Lyrelle und Jeffron entführt hat!“, rief Leandra. „Ruhe!“, brüllte Mrs. McGowan durch das Klassenzimmer, so laut, dass einige vor Schreck erzitterten.

Sie fuhr fort. „Es ist nur eine Frage der Zeit, wann er und seine Armee unser Dorf einnehmen werden. Vielleicht in ein paar Wochen, Tagen oder vielleicht auch schon heute. Eine dunkle Zeit kommt auf uns zu, seid euch dem bewusst, meine Lieben. Und diesmal haben wir nicht den Hauch einer Chance.“

Leandra rollte genervt die Augen. Was wusste denn Mrs. McGowan schon? Sie war dafür bekannt, wirklich alles nur negativ zu betrachten. Nicht nur Leandra, sondern auch alle anderen hatten Vertrauen in das Königspaar. Sie hatten sich immer für das Dorf und sein Wohlbefinden eingesetzt und nun sollten sie einfach so, zu ihrem eigenen Schutz untertauchen? Das machte doch keinen Sinn. Khyron steckte mit Sicherheit hinter allem. In einer Sache, hatte Mrs. McGowan allerdings Recht. Das Dorf war ohne Lyrelle und Jeffron verloren. Khyron konnte sie alle mit einem Schlag vernichten.

Als Leandra und Lilia gemeinsam die Schule verließen, standen Lilia tausende von Fragen offen. Doch sie beschloss, diese Fragen zu verdrängen, als sie Leandras vor Wut kochenden Gesichtsausdruck sah. „Was weiß denn die alte McGowan schon. Sie hat ja keine Ahnung!“, murmelte sie vor sich hin, während sie Steine, die vor ihr auf dem Boden lagen, immer wieder wegkickte. „Lass gut sein.“, sagte Lilia vorsichtig und legte ihre Hand auf Leandras Schulter. Sie seufzte. „Ich schätze du hast Recht.“, gab Leandra zu und hörte ruckartig auf, die Steine zu kicken.

„Ich glaube, ich werde Sydenia einen Besuch abstatten. Vielleicht weiß sie schon mehr.“, murmelte Leandra. „Soll ich mitkommen?“ – „Nein, ich gehe alleine. Geh lieber nach Hause und ruh dich aus, sonst wird dir das alles zu viel, befürchte ich.“ Lilia war zwar nicht so ganz einverstanden, Leandra alleine gehen zu lassen, da es ein weiter Weg war und die Dunkelheit schon bald hereinbrach. Doch Lilia ließ sie gehen und machte sich somit ganz allein auf den Weg nach Hause.

Doch sie hatte nicht das Gefühl, alleine zu sein. Sie fühlte sich verfolgt, als könnte hinter jeder Ecke  etwas Böses lauern. Wohl oder übel musste sie sich eingestehen, dass Mrs. McGowan ihr mehr Angst gemacht hatte, als sie ohnehin schon hatte.

Wochen, Tage oder vielleicht auch schon heute, hatte sie gesagt. Niemand war sicher. Niemand hatte auch nur die geringste Chance gegen ihn.

Bei ihrer Großmutter in Durham wäre sie bestimmt in Sicherheit. Doch sie wusste, dass sie dorthin nicht mehr zurück konnte, denn außer Mrs. Devany, kannte dort Lilia niemand mehr. Sie war wie ausgelöscht. Obwohl sie in ihrer alten Schule keine Freunde hatte, begann sie bereits ihr altes Leben zu vermissen.

„Lilia!“, hörte sie plötzlich jemanden rufen. Für einen Augenblick verfiel sie in eine Starre und hielt vor Angst die Luft an.

Oh nein, das waren bestimmt Khyrons Gehilfen. Sie werden mich entführen, genau wie Lyrelle und Jeffron. Ich bin verloren.

 

„Keine Angst, ich bin’s bloß.“ Ein Junge mit übergestülpter Kapuze lief hinter Lilia hervor. Erleichtert erwachte sie wieder aus ihrer Starre und schnappte nach Luft, als der Junge seine Kapuze abnahm und man sein Gesicht erkennen konnte. Es war Scott. „Warum bist du ganz alleine?“, fragte er. „Leandra ist auf dem Weg zu Sydenia.“ – „Sie kann es einfach nicht lassen, oder?“ – „Was meinst du?“ – „Nun ja, sie ist fast jeden Tag bei Sydenia, in der Hoffnung, sie hatte gute Neuigkeiten. Im Grunde macht sie sich damit selbst fertig.“

„Warum ist gerade ihr das alles so wichtig? Ich meine, es ist klar, dass niemand will, dass Khyron hier die Herrschaft übernimmt, aber warum setzt sich gerade Leandra so sehr dafür ein?“

„Sie kannte Lyrelle und Jeffron, deshalb hat sie jetzt auch Zutritt zu Sydenia. Nicht jeder darf einfach so in den Königspalast. Leandra schon. Ihr ist es ernst, alle anderen tun so als ob nichts wäre, versuchen die Tatsache zu verdrängen, dass schon bald etwas Schreckliches auf uns zukommt.“ Lilia fehlten die Worte. Sie hatte nie geahnt, dass es Leandra so wichtig war.

Scott fuhr fort. „Sei gewarnt, Lilia. Sobald Khyron hier mit seiner Armee antanzt, wird Leandra untertauchen, also mach dir nicht zu viele Sorgen.“ – „Aber was hat sie denn vor?“ – „Das hat sie mir nicht verraten, doch Leandra weiß schon, was sie tut.“

Lilia verlangsamte ihre Schritte, als sie vor Leandras Haus angekommen waren. „Ach ja, du wohnst ja jetzt bei Leandra.“, sagte Scott. Sie nickte bloß, auf den Boden blickend. Es war bereits dunkel geworden. Eisiger Wind wehte, welcher Lilia erschaudern ließ. „Vermisst du dein altes Zuhause?“, fragte Scott leise. Sie nickte wieder nur. „Scott? Wo wohnst du?“ – „Gleich nebenan. Wenn du aus dem Fenster in Leandras Zimmer siehst, erkennst du mein Zimmer.“, sagte er verabschiedend und ging die letzten paar Schritte weiter und verschwand schließlich hinter seiner Haustüre.

Lilia betrat ebenfalls das Haus der Lithgows, begrüßte Leandras Eltern, ging aber dann sofort nach oben. Das erste, das sie in Leandras Zimmer tat, war es aus dem Fenster zu sehen, doch zu ihrer Enttäuschung konnte sie nichts sehen. Bis plötzlich das Licht anging und Scott ebenfalls aus dem Fenster blickte. Als er Lilia bemerkte, winkte er und wandte sich ihr schließlich wieder mit einem Lächeln ab. 

Zauber der ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt