Die Hymne

1.4K 261 28
                                    

Mit einem Seufzen schlug Kjell das Notizbuch zu. Es war ein mulmiges Gefühl diesen Raum das letzte Mal zu betrachten.
Die letzte Sitzung war vorbei, er hatte seinen Job getan - auch, wenn er sie nicht retten konnte.

Eine Insel mitten im nirgendwo. Das war das Experiment gewesen, doch die Realität hatte aus der Insel eine Reise ans Meer gemacht. Er war schon sehr überrascht gewesen, als er von dem Abenteuer seiner Aussteiger gehört hatte. Sie waren zwar ein Haufen Chaoten gewesen, Antihelden und Jugendlichen, die nichts mit dem Leben anfangen konnten und doch hatte Kjell in jeder Sekunde an sie geglaubt.

Er hatte daran geglaubt, dass Gismo irgendwann Partys mögen würde.
Er hatte daran geglaubt, dass Ivan eines Tages seinen Vogel freilassen könnte.
Er hatte daran geglaubt, dass Tristan irgendwann das Feuerzeug senken würde.

Und er hatte daran geglaubt, dass Roxanne eines Tages wieder essen würde.

Doch manchmal reichte das Glauben nicht mehr aus.
Gismo mied die Öffentlichkeit,
Ivan würde das Meer nie wieder sehen, doch der Vogel war noch da, Roxanne aß so gut wie gar nichts mehr und Tristan? Tristans Feuer war erloschen. Dieser Gedanke trieb ihm die Tränen in die Augen. Er waren doch nur Kinder gewesen, die noch so viel erleben wollten. Zurück kamen aber drei kaputte Seele, auch wenn sich die Erinnerungen angefühlt hatten, als sei all das erst vor wenigen Tagen passiert.

Mit einem letzten Blick schloss er die Zimmertür hinter sich, zog den Schlüssel ab und vernahm zu seiner Überraschung Schritte im Treppenhaus. Wer verirrte sich zu so später Stunde noch hier her? Die Antwort war schnell gefunden, als er den rot-blonden Haarschopf sah.

Sie war unheimlich blass mit tiefen Ringen unter den Augen.

"Roxanne.", Überraschung, Freude, Trauer - viele Emotionen, doch sie wurden vom Mitgefühl weggespült. Kjell wollte das Mädchen am liebsten in den Arm nehmen, doch anstatt sich ihr zu nähern, klopfte er seine Manteltasche ab.

"Ich habe noch etwas, was jetzt wohl dir gehört...", flüsterte er dabei leise und las in Roxannes Blick, dass sie überrascht war. "Ja, ich weiß. Ich hätte es dir früher geben sollen, aber hier - nimm es bitte.", damit blitzte das silberne Feuerzeug auf. Er hatte es in einem anderen Leben einem Jungen mit goldenen Augen abgenommen.

In einem anderen Leben.

Stumm nahm das Mädchen das Feuerzeug in die Hand. Ihre Augen glitzerten vor Tränen und doch beherrschte sie sich. Nach all dem, was geschehen war, beherrschte sie sich immer noch.

Roxanne war so stark.

Sie alle waren es gewesen, auf ihre Art. Und deshalb konnte Kjell selbst die Tränen nicht zurückhalten, während Roxanne die kleine Flamme entzündete. Tatsächlich war ihr etwas von ihm geblieben, auch wenn das Feuer niemals die Wunden heilen würde, Narben blieben immer zurück.

Aussteiger.

Ihre Hymne war gesungen, als die Flamme erstickte.

Die Hymne der AussteigerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt