etwa eine Woche nach dem Fall - 13.06.

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Eine Amnesie sagten die Ärzte. Ich hatte einen Schlag auf den Kopf bekommen, meinten sie. Ich wusste noch immer nicht, was genau passiert war. Ich wusste nur, dass ich wohl von einer Brücke in einen Fluss gefallen war. Das passte zu mir. Ich fragte mich unwillkürlich, was ich wieder Dummes angestellt hatte, für dass ich dieses Mal hatte bezahlen müssen und die Währung war Erinnerung.

Ich konnte nicht sagen, wie kostbar die Erinnerungen waren, die mir fehlten, doch sie nicht mehr zu besitzen... allein schon das reichte, um mir jegliche Ruhe zu nehmen. Dann war da noch er. Was fiel ihm ein, einfach zu verschwinden, ohne mir seinen Namen zu sagen? Mich zu küssen und dann links liegen zu lassen? Der traurige Blick seiner Augen hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt - wie ironisch. Wer war er? Ein Freund? Mein Freund?

Zur Hölle, wenn das der Fall war, dann hatte ich echt ein Problem, denn meine Eltern würden nie einen Mann an meiner Seite akzeptieren. Ich sollte die Firma übernehmen und ich sollte heiraten und Nachkommen zeugen, das war ihre Vorstellung von meinem Leben und um ein Klischee nicht zu erfüllen: Es war okay für mich. Ich liebte die Firma und ich freute mich darauf, dass das alles irgendwann in meine Hände übergeben werden würde.

Noch ging ich zur Schule und noch stand der Tag in weiter Ferne, doch das änderte nichts daran, dass ich schon jetzt daran arbeitete, irgendwann das zu tun, was mein Dad jetzt tat.

Auch eine Frau finden war okay für mich. Ich war da flexibel. Immerhin wurde mir kein x-beliebiges Mädchen vorgesetzt, dass ich zu heiraten hatte. Doch ein Mann? Das kam meinen Eltern mit Sicherheit nicht in die Tüte.

Doch wer war er nun gewesen? War er am Ende ein Stalker aus der Schule? Dass er mich geküsst hatte, hieß noch nicht, dass er mein Freund war. Er könnte genauso gut auch ein creepy Typ sein, der mich von weiten angehimmelt hat und sich in mein Zimmer geschlichen hatte, weil er gehört hatte, dass ich im Krankenhaus lag. Was wusste ich schon, außer, dass ich ihn nie vorher gesehen hatte?

Er machte mir Kopfweh. Was sollte das Gerede über Schicksal? Wenn es sein Ziel gewesen war, mich zu verwirren und mich noch tagelang zu beschäftigen, dann Glückwunsch. Das hatte er super hinbekommen.

Fahrig fuhr ich mir durch mein dunkelbraunes Haar und zuckte zusammen, als ich aus versehen gegen die Stelle kam, an der ich heftig eine auf den Schädel bekommen hatte. Nervös strich ich meine Schuluniform glatt. Ob es sich lohnen würde in der Schule nach ihm Ausschau zu halten? Sah er aus, als würden seine Eltern Unsummen hinblättern, damit ihr Sohn an eine Privatschule gehen konnte, so wie meine es taten?

Ein unbestimmtes Gefühl sagte mir, dass ich ihn nicht aus der Schule kannte. Es sagte mir sogar, dass wahrscheinlich niemand ihn kannte. Ich rieb mir die Stirn, dann nahm ich die Packung Schmerztabletten, die auf meinem Nachttisch lag und klickte gleich zwei der ovalen Pillen raus, um sie zu schlucken. Ich hoffte, dass die Kopfschmerzen bald nachlassen würden. Sie waren unerträglich, vor allem immer dann, wenn ich versuchte, zu rekapitulieren, was geschehen oder was in den letzten Wochen in meinem Leben passiert war.

Als hätte man die Resettaste gedrückt. Dieser weiße Fleck in meinen Erinnerungen nervte mich.

Die Ärzte sagten, dass wahrscheinlich ein Teil, oder alles ganz zurück kommen würde. Dass ich geduldig sein müsste, dass es nicht in meiner Macht stand und ich mich nicht selbst überfordern sollte.

Es kam auch schon etwas zurück, aber das meiste war eben einfach Schulstoff. Das war wirklich enttäuschend. Da kommen Erinnerungsfetzen hoch und ich wusste plötzlich wieder, wie man eine Parabel ausrechnete... aber die wirklich wichtigen Dinge lagen noch immer in einem dichten, dunklen Nebel, der meine Gedanken umhüllte und sie vor mir versteckt hielt.

Ich nahm mein Handy zum tausendsten Male zur Hand.

Da war ein Chat mit einer unbekannten Nummer. Doch auch aus dem wurde ich nicht schlau.

Ich hatte ihn, sollte es wirklich seine Nummer sein, immer mit dem selben Wort angeschrieben.

'Heute?'

Seine Antwort war auch immer gleich.

'Nein.'

Was zur Hölle? Warum hatte ich keinen Namen eingespeichert? Warum hatte ich eine solch sinnfreie Konversation geführt? War das ein Insidergag? Was war nur los gewesen mit mir? Ich öffnete den nächsten Chat. Es war der mit meinem besten Kumpel Namjoon. Ich hatte ihn bereits gefragt, mit wem ich die letzten Wochen rumgehangen habe und zu meiner Erleichterung kam kein 'Mit mir nicht'.

Also selbst wenn ich einen Freund gehabt haben sollte, dann war ich wenigstens kein Arschloch gegenüber Namjoon gewesen. Dank Namjoon konnte ich den Stalker jedoch so gut wie ausschließen, denn er sagte mir, dass ich mich tatsächlich mit jemandem getroffen hatte und ich hatte ihm sogar versprochen, ihm denjenigen vorzustellen, wenn daraus mehr werden sollte.

Offensichtlich hatte ich ihn aber nicht Namjoon vorgestellt. Ich hatte Joonie nicht mal seinen Namen verraten, oder woher ich ihn kannte, oder sonst was.

Das wunderte mich nicht mal, denn ich hatte es bisher immer so gehalten, dass ich ihm solche Sachen nicht erzählte, denn ich war auch kein Kind von Traurigkeit und solange es keine ernstere Sache war, textete ich ihn nicht damit zu. Namjoon und ich hatten andere Themen zu besprechen, meistens ziemlich tiefsinnigen Kram, denn mein bester Freund war ziemlich intelligent.

Oft hingen wir auch nur bei ihm zu Hause in seinem kleinen Kellerstudio, dass seine Eltern ihm eingerichtet hatten, weil sie alle Hobbies ihres Sohnes unterstützten - außer Kickboxen. Verständlicherweise. Ich wollte mir auch nicht mitansehen, wie Namjoon verprügelt wurde. Er war dafür eigentlich viel zu tollpatschig.

Ich schrieb Namjoon schnell, dass ich ihn abholen würde und stieg dann ins Auto zu unserem Chauffeur, einem Mann mittleren Alters, dessen Oberlippe der wohl gezwirbelste Bart der Welt zierte. Er grüßte mich und fuhr los.

Namjoon stand bereits vor der Villa seiner Eltern und stieg einfach dazu, als das Auto vor ihm hielt. Er hielt mir die Hand hin und ich schlug, wie gewohnt, mit unserem Handschlag ein. Er grinste. "Solange das noch da ist", meinte er zufrieden. Ich lachte leise. "Es fehlen nur ein paar Wochen. Ich erinnere mich noch an Seunghyuns Geburtstag... aber danach..."

Ratlos zuckte ich mit den Schultern. Namjoon lächelte mir aufmerksam zu. "Das wird schon Tae. Wenn ich dir helfen kann, dann lass es deinen Hyung wissen."

Die Schule half mir nicht weiter. Ich fragte herum, aber niemand kannte einen schwarzhaarigen junge Mann mit einer Narbe auf der Wange und niemand hatte mich mit einem gesehen. Ich beschloss also zu Fuß nach Hause zu gehen, denn irgendwo musste ich ihn ja getroffen haben. Außerdem hatte ich eine Person noch nicht fragen können. Vielleicht konnte Hoseok mir helfen.

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