Der Psychopath

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Wir alle haben schon einmal ein Déjà-vu erlebt. Eine fremde Situation, die uns auf gruselige Weise bekannt vorkommt. Weniger bekannt, jedoch von größerer Bedeutung, ist ein Jamais-vu. Etwas, was wir gut zu kennen glauben, erscheint uns plötzlich fremd. Unsere Perspektive verändert sich und wir sehen es auf einmal mit ganz anderen Augen. Genau das erlebe ich auf den 18 Stunden Zugfahrt in die vietnamesische Stadt Saigon.

Ich liege mit offenen Augen in der obersten Schlafkoje und starre an die Decke. Unter mir höre ich das regelmäßige Rattern der Gleise. Wir sind jetzt schon fast vier Stunden unterwegs und Anna ist neben mir längst eingeschlafen. Gut so, denke ich, denn mit der will ich nie wieder ein Wort reden.
Erneut konnte ich mir eines ihrer Pamphlete darüber anhören, wie geistig zurückgeblieben ich doch sei.
Kochend vor Wut stieg ich in den Zug und liege jetzt hier. Doch statt mich über Anna zu ärgern, geschieht etwas Merkwürdiges. Ich stelle mich selbst in Frage. Vor mehr als zwei Wochen hatte ich das letzte Mal Kontakt zu einer Person, die mich achtet. Dieses wundervolle Leben kommt mir inzwischen wie ein Traum vor.
Eigentlich hatte ich mich immer als sehr selbstsicher eingeschätzt. Doch schon ein Blondchen wie Anna schafft es, all meine Souveränität ins Wolkenkuckucksheim zu befördern. Ich frage mich, was große Persönlichkeiten an meiner Stelle tun würden.
Der Dalai Lama würde vermutlich die ganze Zeit verklärt lächeln und mit dem Kopf nicken.
Jesus würde ihr jeden Tag aufs neue vergeben und zwischendurch einen Spaziergang auf dem Mekongdelta machen.
Und Mohammed? Der hätte sie vermutlich entweder geheiratet oder geköpft. Oder erst geheiratet und dann geköpft. Oder wie auch immer.
Ich höre ein Geräusch und schaue von meinem Hochbett auf den Boden des Abteils. In der vordersten Ecke sitzt David 2.0. Er ist größer als ich, hat breite Schultern und weiß immer genau, was zu tun ist. Außerdem mag Anna ihn.
"Ich kann dir auch nicht helfen", sagt er, "Mich gibt es doch gar nicht." Er steht auf und verlässt das Abteil. Toll, jetzt bin ich wieder allein.
Zähneknirschend wälze ich mich den Rest der Nacht hin und her und kann einfach keinen klaren Gedanken fassen. Dann wird mir zum ersten Mal bewusst, wie wichtig die Anerkennung anderer Menschen für mich ist. Bis heute glaubte ich immer, es sei mir gleichgültig, wie andere über mich denken. Ich war doch David und machte mein Ding schon allein. Doch das war ein Irrtum. Was mir diesen Urlaub so verhagelte waren gar nicht Annas Animositäten. Es war vielmehr ihre taxierende Art. Sie gab mir fast ununterbrochen das Gefühl, eine viel schlechtere Version von mir selbst zu sein.
Was konnte ich dagegen tun? Sie sich selbst zu überlassen war keine Option mehr. Doch vielleicht konnte ich sie anders zähmen. Als ich sie in Hanoi am Bahnhof stehen gelassen hatte, war sie danach einige Tage nett zu mir gewesen. Vielleicht ließ sich dieses Verhalten ja reproduzieren.
Schlafen tue ich in dieser Nacht zwar nicht, doch zumindest verstehe ich endlich mein grundlegendes Problem. Und als wir aussteigen habe ich einen Plan.

Saigon ist der alte Name von HồChí Minh-Stadt. Der größten Metropole in Vietnam. Früher war es Hauptstadt von Südvietnam. Heute noch immer florierendes Wirtschaftszentrum. Wir steigen aus und werden von demselben chaotischen Verkehr empfangen, wie ich ihn schon aus Hanoi kenne. Zwischen all den Motorrollern und Autos fühle ich mich, wie in einem Ameisenhaufen.
Auf meinem Handy habe ich ein paar Hostels markiert und erkläre Anna wo wir hin müssen. Anfangs laufen wir noch gemeinsam, doch steigere ich meine Geschwindigkeit immer weiter. Neben mir kommt sie ziemlich ins Schwitzen, denn sie hat durch all ihre Souvenirs deutlich mehr Gepäck als ich.
"Können wir vielleicht etwas langsamer machen?", schnauft sie als ich schon einige Meter vor ihr laufe. Doch genau das möchte ich natürlich nicht und gehe noch schneller. Wir überqueren einen Kreisel und Anna kämpft sich mit rotem Kopf durch das Meer aus Rollern. Hat sie gerade etwas gerufen? Egal. Es hupt und trötet um mich herum und als ich den riesigen Kreisel überquert habe, blicke ich noch einmal zurück. Anna steht trotzig auf einer Verkehrsinsel und bewegt sich nicht mehr.
Scheinbar will sie mich dazu zwingen zu ihr zurück zu kehren. Doch obwohl ich ein schlechtes Gewissen habe, gehe ich einfach weiter. Nach etwa hundert Metern blicke ich noch einmal zurück und sehe, wie Anna sich wieder in Bewegung setzt. Ihre Verschnaufpause scheint also doch vorbei. Und kurz darauf passiert endlich, was ich möchte und wir haben uns verloren. Scheinheilig gehe ich noch mal ein paar Meter zurück und tue so, als wollte ich Anna wieder finden. Doch ist das gar nicht der Plan. Sollte sie ruhig etwas herumirren.

Kurz darauf habe ich ein Hostel gefunden. Anna hat mir schon eine gepfefferte Nachricht geschickt: "Christlich erzogen von deinen Eltern? Ich lache obwohl ich Schmerzen im Fuß habe weil ich umgeknickt bin als du vor mir weggerannt bist wie ein Kleinkind! Zum 2x!"
Doch auch von ihrer Ihre Mutter habe ich Post: "Anna sitzt mit umgeknicktem Fuß alleine da. Wo bist du? Warum lässt du sie allein? Melde dich SOFORT!"
Ich schreibe, Anna habe sich das mit dem Fuß nur ausgedacht um mich zu Manipulieren, doch Bibi Blocksbergs Mutter wird jetzt erst richtig böse auf mich.
Vermutlich hätte die sich inzwischen wohler gefühlt, wenn ihre Tochter mit Frankenstein höchstpersönlich einen Ausflug nach Transsilvanien unternommen hätte. Etwas lustlos gebe ich mein Gepäck im Hostel ab und mache mich auf den Weg in ein Café, wo Anna auf mich wartet. Bisher funktioniert mein Plan ganz gut. Bevor ich ankomme, frage ich mich ob sie die Geschichte mit ihrem Fuß nur erfunden hat, um mich unter Druck zu setzen. Doch als ich das Lokal betrete, sitzt Anna ziemlich angesäuert in einer Ecke. Ihr Bein demonstrativ auf einen Hocker gebettet.
"Was du meiner Mutter geschrieben hast, war jetzt aber nicht dein Ernst, oder?", sagt sie als ich mich setze.
Ich gehe gar nicht darauf ein. "Ich werde ab jetzt ohne Dich weiter reisen", sage ich, "ich kann Dir ein Taxi rufen und dann geht es zum Flughafen."
Sie macht den Mund auf, doch bevor sie antwortet schließt sie ihn wieder. Ich kann förmlich hören, wie sie nachdenkt. Nachdem wir uns einige Zeit angestarrt haben, fragt sie: "Wieso bist du denn jetzt schon wieder angepisst?"
Scheinbar hat sie ihre Rede vom Vortag total vergessen.
"Anna", sage ich, "Auf dieser ganzen Reise habe ich mich Dir immer angepasst. Ich habe in glühender Hitze Souvenirs mit Dir gesucht, habe alle Sachen für Dich getragen, habe fast alles Geld für Dich abgehoben und habe mir täglich Deine Monologe angehört. Das war auch okay. Doch Deine ständige Kritik kann ich einfach nicht mehr aushalten. Gestern wollte ich Wäsche waschen. Doch Du bist nicht mal bereit für drei Minuten mit zu kommen um sie abzuholen, weil Du es 'dumm' findest wenn ich waschen möchte. Vorher war ich drei Stunden shoppen mit Dir."
Annas Kiefer klappt während ich spreche immer weiter nach unten. Sie scheint keinen meiner Vorwürfe zu verstehen.
"Ich wasche eben unter der Dusche", sagt sie.
Ich unternehmen noch einen letzten Versuch Anna klar zu machen, wo mein Problem mit ihr ist. "Ich finde shoppen gehen auch dumm. Ich habe es aber trotzdem getan, weil es Dir wichtig ist. Ich hinterfrage Deine Bedürfnisse nicht, sondern gehe darauf ein. Das sollte auf Gegenseitigkeit beruhen."
Der Streit geht noch ein paar mal hin und her, doch Anna ist so borniert wie ein russisches Schlachtschiff.
"Weiß du, was ich glaube?", sagt sie und setzt die Miene einer Therapeutin auf, "Du bist ein Psychopath. Du hast kein Mitgefühl gezeigt, als du mich in Hanoi alleine gelassen hast. Und jetzt ist dir mein verletzter Fuß ebenfalls total egal."
Ich weiß jetzt gar nicht mehr, was ich sagen soll. Lethargisch blicke ich auf die blanke Tischplatte vor mir. Doch Anna scheint stolz auf ihre Schlussfolgerung und plappert munter weiter: "Allein wie du schon immer guckst. Das ist ganz typisch für solche Menschen. Du brauchst dringend Hilfe, David. Ganz dringend professionelle Hilfe."
"Okay, ich gehe jetzt", sage ich im Aufstehen, "buch Deinen Rückflug oder komm alleine klar."
Und dann geschieht endlich, worauf ich warte. Anna knickt ein. Ihre Mundwinkel erschlaffen, ihr Blick senkt sich und als ich Anstalten mache das Lokal zu verlassen, folgt sie mir auf wundersame Weise. Von ihrer Fußkrankheit spontan geheilt.
"David, ist ja schon gut. Jetzt setz dich wieder. Ich habe einen Vorschlag."
Und dann ist sie wieder das kleine Mädchen. Endlich hat es geklappt.
Sie verspricht mir mich ab jetzt nicht mehr zu kritisieren und nett zu mir zu sein. Außerdem lässt sie sich auf meinen Plan ein von Kambodscha nach Bangkok zu fliegen. In diesem desolaten Zustand hätte sie sich vermutlich mit mir verlobt, um nicht alleine weiter reisen zu müssen. Als ich mich schließlich umstimmen lasse, muss ich noch eine Umarmung über mich ergehen lassen. Und für die nächsten Tage habe ich eine zahme Anna an meiner Seite.
Doch Zuckerbrot und Peitsche sollten nicht lange funktionieren. Mir stand noch Schlimmeres bevor.

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