Die Wirklichkeit

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Zhuang Zhou, ein taoistischer Gelehrter, träumte einmal, er sei ein Schmetterling. Dieser Traum war sehr real und veranlasste ihn über Wirklichkeit nachzudenken. Woher wusste er, ob er geträumt habe, er sei der Schmetterling oder ob der Schmetterling geträumt habe, er sei Zhuang Zhou? Tatsächlich konnte er es nicht wissen.
Ich bin Anhänger des Konstruktivismus. Wir alle nehmen über die Sinne Dinge wahr und erschaffen in unserem Gehirn eine eigene Wirklichkeit. Diese Wirklichkeiten unterscheiden sich meist voneinander, doch stimmen sie an relevanten Punkten mit der Welt der anderen überein. Nur deswegen können wir überhaupt mit Menschen in Beziehung stehen.
Doch was passiert, wenn zwei Wirklichkeiten so grundlegend verschieden sind, dass es kaum Berührungspunkte gibt? Genau das, was ich schmerzlich mit Anna erfahren musste.
Paul Watzlawick schreibt in einem seiner Bücher von einem ähnlichen Fall: Ein Mann denkt darüber nach, sich den Hammer des Nachbarn auszuleihen. Noch bevor er fragt, mahlt er sich aus, was sein Nachbar antworten könnte. Vielleicht hatte der gar keinen Hammer? Oder er wollte ihm den Hammer nicht geben? Vielleicht war sein Nachbar ja schlecht gelaunt und schickte ihn fort? Nach langem Überlegen ist der Mann so aufgebracht, dass er schließlich raus geht und dem ahnungslosen Kerl ins Gesicht brüllt: "Behalten Sie doch ihren dämlichen Hammer!"
Genau das muss bei Anna und mir geschehen sein. Sie hatte bis zu unserem Urlaub in einer Wirklichkeit gelebt, in der sie immer bekommen hatte, was sie wollte. Doch viel zu selten, was sie brauchte. Im Nachhinein verstehe ich auch, wieso sie nur mit Kerlen befreundet ist. Frauen durchschauen sich nämlich gegenseitig. Als schöne Frau einen Mann um den Finger zu wickeln ist hingegen ein Kinderspiel.
Ich bin schon oft mit Leuten gereist, habe in Teams mit Menschen aus den verschiedensten Kulturen gearbeitet. Alles hat immer reibungslos funktioniert. Fast mit jedem komme ich gut klar. Mit vielen sogar sehr gut. Doch Anna trieb mich an die Schwelle des Wahnsinns. Wie das genau geschehen konnte, weiß ich nicht. Manche werden vielleicht glauben, ich habe übertrieben. Ich wünschte es wäre so. :(
Aufgeschrieben habe ich alles das um mein Erlebnis zu verarbeiten. Und weil ich gerne schreibe.
Anna hier zu deformieren ist nicht meine Absicht. Deswegen habe ich auch ihren Namen geändert und sie bei Facebook blockiert. Somit gibt es keine Möglichkeit mehr über das Internet herauszufinden, wer sie ist. Nur eine handvoll Leute wissen es, und die haben jeweils die Wirklichkeit von mir oder ihr erfahren.
Es wäre interessant einen Blogartikel von ihr zu lesen. Vermutlich würde der heißen: "Meine Klapsmühlenrundfahrt mit David", oder "Rundreise mit einem Psychopathen".
Doch vielleicht auch nicht, denn vor einigen Wochen hat sie mich eingeladen um wieder etwas mit mir zu machen. "Ich bin ja nicht nachtragend", schreibt sie, als sei ich der Aggressor gewesen. Sie scheint bis zum Ende nicht verstanden zu haben, wie sie meinen Jahresurlaub kaputt gemacht hat. David 2.0 hat sich kurz nach unserer Reise auch von mir verabschiedet. "Ich habe wichtige Angelegenheiten im Weißen Haus zu klären", sagt er und lächelt eingebildet. Meine temporäre dissoziative Identitässtörung ist also auch wieder vorbei.
Heute bin ich nur froh, Anna nie wieder sehen zu müssen.
Und seit dem erscheint mir mein Leben fast doppelt so schön, wie zuvor.  

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